Freitag, 25. September 2015

Papageitot!

Viele Geschäfte zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Kunden mittels mehr oder weniger geschickt gewählter musikalischer Untermalung in einen transzendenten Zustand versetzen und damit zum Kauf völlig überflüssiger Dinger animieren. Neben dem zumeist lästig-poppigen Getöse, das beispielsweise in Klamottenläden herrscht, findet man in Supermärkten eher die Sparte „Aufzugmusik“.

Spitzenreiter dieser Unsitte ist ein Discounter mit den allseits bekannten Billigalarmfarben Gelb und Rot, der sich gar eines eigenen Radiosenders rühmen kann, was dazu führt, dass der Kunde in seiner Besorgung zuweilen innehalten und ungläubig den Kopf schütteln muss. Dergestalt vom Einkaufsmodus abgelenkt, vergisst er völlig, was er eigentlich besorgen wollte, und kauft wild und kopflos durcheinander, weswegen ich prinzipiell nur mit melonengroßen Baustellenkopfhörern dort einkaufe und mich odyseeisch an meinem Einkaufszettel festklammere.

Neulich gab’s aber eine Episode, die mich derart geläutert hat, dass ich mir schwor, nie wieder über Einkaufsmusizikation zu lästern. Im Feinkost Albrecht also. Eile ich hinein, man hat ja keine Zeit, weiß sehr genau, was ich brauche. Auf dieser inneren Liste befand sich ganz oben „Schlaf und Ruhe“. Doch da hatte ich die Rechnung leider ohne den Dings gemacht. Mit mir gemeinsam nämlich befand sich im Delikatessengeschäft eine Kleinfamilie, deren Spross erstens von großem Weltschmerz erfasst und zweitens sich seines Organs empfindlich bewusst war. Nicht so sehr bewusst war es sich des Begehrs, dem es Ausdruck verleihen wollte. Es tönte, nein brüllte unablässig „PAPAGEITOOOT!“.

Vielleicht hieß es auch „PAPASEITOT!“, aber das ist mir zu morbid. Papageitot also. Um genau zu sein brüllte es so: „PAPAGEITOOT! … schluchz … PAAAPAGEITOOOOT!! … rotz … PAPAGEITOOT! … PAAAAPAAAAGEEEEITOOOOOOOT! … plärr …“ Die Eltern, wie Eltern halt so sind, ließen sich zumindest äußerlich davon nicht weiter beeinträchtigen. Was möchtest du denn, Schatzi, Melonebutterkeksgummibärchenschoki? „PAPAGEITOOOT!“ Nach ungefähr sieben Sekunden hatte mein Nervenkostüm die Konsistenz von Crêpe de Chine (für die Unwissenden unter euch: ein sehr dünner, weich fließender Stoff mit unruhiger Oberfläche). Mehl … PAPAGEITOOOT! … Öl … PAPAGEITOOOT! … Puderzucker … PAPAGEITOOOT! … Axt … PAPAG… ach halt nein, Eier …

So vergeblich ich mich auch bemühte, das Gewese auszublenden, scheiterte ich ebenso im Versuch, abwechselnd Eltern und Rotzgör mit tötenden Blicken über Gemüse- und Saftregale zu versehen. „Kinder sind unsere Zukunft“, referierte der mit Tampons in den Ohren ausgestattete Kassier, „da muss man tolerant sein.“ Ja ja. Sautolerant bin ich, und deshalb schnall ich mir demnächst einen Ghettoblaster auf die Schulter, weil ich bin nämlich auch die Zukunft, und da muss man mich eben lassen. Die nächste Glosse schreib ich dann aus der Anstalt, aber da soll’s ja mitunter auch lustig sein.

Freitag, 18. September 2015

Mein lieber Scholli!

Am Wochenende ist ja wieder dieses Nürnberg.Pop. Und zum fünften Mal werde ich daran erinnert, dass sich bei jeder einzelnen dieser Veranstaltungen hartnäckig das Gerücht hält, es befände sich anlässlich des Festivals ein besonders großer Stargast weil prominenter Musikliebhaber in der Stadt. Ob das in diesem Jahr wieder so ist, weiß ich nicht. Aber weil ich mich jetzt schon so lange mit diesem Gedanken trage, finde ich, es ist Zeit für ein Geständnis. Bei diesem Menschen nämlich handelt es sich um meine erste große Liebe. Ein wunderschöner Mann mit braunen Locken und entzückend schiefen Zähnen, der, wann immer man ihn sah, in unfassbarer Lässigkeit seine stets zu langen Ärmel baumeln ließ, während er seine Kunststückchen vollführte. Ich schlief in dieser Zeit sehr gut, wachte doch über meinem Bett eine Postertapete, zusammengesetzt aus verschiedensten Abbildern all dieses Mannes Schönheit. 

Aus jedem noch so kleinen Schnipselchen an öffentlichem Auftritt füllte ich eine Videokassette(die gibt es heute noch, nur leider nichts mehr zum Abspielen) und verbrachte Stunden damit, ein Album voller Erinnerungen, Fotos und denkwürdigen Äußerungen wie „Hängt die Grünen solange es noch Bäume gibt!“ zu bestücken (das gibt es leider nicht mehr, fiel wohl einer adoleszierenden Ausmistaktion zum Opfer). Ich gönnte ihm mit angestrengtem Edelmut seine Ehe, schließlich bin ich glücklich, wenn du glücklich bist, mein Schatz, feierte seinen Geburtstag in Abwesenheit und bangte mit jeder Verletzung. Wir hatten glückliche Jahre. Bis zu einem denkwürdigen Ereignis: Der Mann und seine Truppe besuchten die Stadt – in meiner Erinnerung aufgrund eines Benefiz zugunsten des Ruhmreichen. Mit im Programm: eine Autogrammstunde! Ich war vorbereitet. Extra für diesen Irrsinnsglückstag hatte ich von meinen geringen finanziellen Mitteln eine supisüße Plüschschnecke erstanden. 

Die wollte ich dem Mann schenken als Beweis meiner Liebe und Eignung als zukünftige Gattin (die vorherige hatte kurz zuvor das Weite gesucht, ich befand meine Chancen für nicht schlecht, mich als Nachfolgerin ins Spiel bringen zu können). Je näher ich in der Signier-Schlange nach vorne rückte, desto mehr hyperventilierte, schwitzte, zitterte ich – gleich war es so weit, ich würde meine Liebe gestehen und vor laufenden Kameras den Antrag  bekommen. Schob starr vor Ehrfucht wortlos das Stoffvieh über den Tisch. Musste starr vor Schreck mitansehen, wie der Zukünftige das Vieh mit seiner eddingen Unterschrift versah. Japste „Dieisdochfürdich!“ Hörte „Aber das musst du mir doch sagen!“, was wie Engelschöre in mir erscholl – er hatte mit mir gesprochen! Den restlichen Tag beobachtete ich mit stolz geschwellter Brust, wie der Mann die Schnecke am Finger baumelnd mit sich herumtrug, schoss Fotos und verarbeitet die zu Schlüsselanhängern. Jetzt geht’s mir schon viel besser – nach 25 Jahren. Wenn du dieses Jahr wieder in Nürnberg bist, Mehmet – ich habe dich immer geliebt! 

Freitag, 11. September 2015

Festivaltypen

Man war ja aktuell vergleichsweise viel draußen. Zumindest wenn man ein halbwegs vernünftiger Mensch ist, so wie, öhm, ich. Draußen ist schön, draußen ist gesund, und daheim sterben die Leut‘, wie wir alle wissen. Gewohnt werden kann ab Oktober wieder. Zum Draußensein im Allgemeinen gehört zwingend das Draußensein im Speziellen, nämlich auf Open Air Veranstaltungen jedweder Couleur. Freiluftkino hier, Freiluftsport dort, Freiluftmusik überall. So muss das, so soll das. Was bei all diesen Veranstaltungen, die sich für gewöhnlich durch eine relative Überfülle von bis zu acht Personen pro Quadratdezimeter auszeichnen, nicht fehlen darf, sind charakteristische Menschentypen, ohne die eine jede Draußensache einfach nur halb so schön wär. Typ 1 ist der, der erfahren, vorbereitet und vorausschauend ist. Deswegen trägt der Typ einen Rucksack auf seinem breiten Kreuz, der die Größe eines Kleinwagens nicht unterschreiten sollte. Man weiß ja nie, was kommt: Regen, Sonne, Eiszeit, Wechselunterhose, Butterstullen, Wasser, Bierfässer. Zeug. Dass des Rucksackmenschen Umfang sich damit jedoch rückwärtig verdoppelt, das vergisst er, und so kuschelt er unentwegt mit um- und vor allem hinter ihm Stehenden. Wie fein, mehr Liebe und Nähe für alle! 

Typ 2, das ist derjenige, der sich daheim denkt: Ach schau wie schön, ein Musikfest in der ganzen Innenstadt, da sollen 500 000 Menschen kommen, da will ich auch hin! Und meine Brut, die steck ich in den Kinderwagen, und zwar nehm ich da nicht den Klapperbuggy, sondern den mit der SUV-Gelände-Getränkehalter-Airbag-iPod-Luxusausstattung. Das geht dann schon. Und mei wie praktisch, da kann ich dann unten in die Ladefläche auch noch meinen Hausrat (vgl. Typ 1, der) hineintun. Gesagt getan, und dann wundert sich das Gespann auf einmal: Nanu, so viele Menschen, und niemand macht mir Platz, dabei hab ich doch ein Kind, also wirklich, unerhört, nirgends kommt man durch, das Allerletzte, Kinderhassdeutschland, na warte, euch werd ich’s zeigen und fahr euch in die Hacken! Das geschieht dann mit viel Schwung und wenig Elégance, und mit viel Glück erwischt man einen dieser unverantwortlichen Deppeneltern, die ihr Kind in einer Kraxe oder gar auf den Schultern durch die Feier tragen. 

Typ 3 jedoch ist mir der liebste, zeichnet der sich doch durch besondere Toleranz und Veranstaltungskompetenz aus. Solche findet man beispielsweise direkt an Eingängen sich rasch füllender Konzertgärten. Inwändig. Da, wo dauernd Besucher hinein- und durchmüssen, stellt der Mensch sich breitbeinig hin, schließlich hat er sich jetzt diesen Platz ergattert, und weicht keinen Millimeter, „wo kommen wir denn da hin“, schnaubt er und hasst die Welt. Um seinen Platzhirschstatus zu verteidigen, ist ihm jedes Mittel recht, und da helfen weder sanfte Berührungen mit dem Samthandschuh noch gesäuselte Entschuldigungen mit der Kreidestimme. Nein, auf die wird mit sofortiger Maßregelung verbaler wie handgreiflicher Art reagiert, weil „wo kommen wir denn da hin“. Leider ist das mit den Open Airs jetzt fast vorbei und ich muss mir neue Lieblingsmenschen suchen. 

Freitag, 4. September 2015

Lieschen Müller

Obwohl – nein, WEIL ich kein Einzelkind bin, befinde ich mich in einem steten Zustand drohender potentieller Benachteiligung. Die Anfälle sind gottlob meist von kurzer Dauer. Es gibt aber einen Sachverhalt, der mich Zeit meines Lebens und wachsend tief betrübt: Ich habe keinen superdupercoolen Spitznamen. Einen solchen sucht man sich ja bekanntermaßen nicht aus, sondern er wird einem verliehen, und das ist bei mir nie geschehen. Freilich gibt es die gängige Abkürzung sowie diverse Verhunzungen meines (Nach-)Namens. Das war’s dann aber auch schon. In frühen Kindertagen habe ich versucht, einen der beiden Namen der Protagonistinnen von „Wendy“ als den meinigen durchzusetzen und bin damit, dankedanke, grandios gescheitert, sonst hieße ich jetzt „Bianca“, und als ich meine Fußballerinnenkarriere rein verletzungsbedingt an den Nagel hängen musste, war’s auch mit dem Rufnamen vorbei, den mir der Trainer verliehen hatte. 

Geh ich also spitznamenfrei durch die Welt und weine leise vor mich hin. Mutmaßlich aufgrund dieses herben Schicksals habe ich ein großes Faible für Titulierungen jedweder Art und von für Außenstehende völlig undurchsichtigen Grund entwickelt. Aufgefallen ist mir das erst jetzt wieder, als ein Freund eines der anderen Nichteinzelkinder völlig verwirrt dreinschaute und fragte, wieso um Himmels Willen das Kind so hieße, das ergäbe doch gar keinen Sinn und niemand wisse, woher der Name käme. Ich schon, schließlich habe ich vor 25 Jahren diesen Namen als den fürderhin zu rufenden Auserkoren und damit sowohl einen innerfamiliären Meilenstein gesetzt wie auch meine diesbezügliche Karriere begonnen. 

Seitdem gibt es in meinem Umfeld beispielsweise Wilmas und Petits, Rehe und Bären, Winzis und Vaddis, was stets für Verwirrung sorgt und mich diebisch freut. Ein Spitzname darf nicht gesucht werden, sondern muss zu einem kommen (von mir, im Zweifel), ganz so, wie ich einen gestandenen Familienvater und Freund und Helfer kenne, der seit jeher von seinem Umfeld „Treppe“ gerufen wird aufgrund einer jugendlichen Vorliebe fürs Einschlafen auf einer solchen. Der unerreichte König dieser Disziplin jedoch ist mein Großvater. Beschenkt mit einem Sack voll Töchtern hat der diese mit Spitznamen dekoriert, bei denen meine Augen jedes Mal aufs Neue feucht werden vor Stolz, Freude, Rührung und Neid, und neulich habe ich den ganzen Nornen-Trupp, von dem jede einzelne mit durchwegs wohlklingend-gängigen Vornamen betauft ist, genötigt, zu sammeln und mir zu erklären. Es gibt hierunter: Hotze, Rosa, Kauz, Molto, Nuschko, Donnerwetterzwiebel oder Xaver, und davon noch viel mehr. Und da kann ich nur meinen Hut ziehen und weiter durchs graue Tal der Spitznamenslosigkeit wandern. Immerhin ist nach mir ein berühmter Skifahrer benannt, das hat ja auch nicht jeder.