Freitag, 30. Dezember 2022

Rauhnächte

 „Zwischendenjahren“, du liebe Lieblingswinterzeit. Ein ungewisses Gebilde voller Regen und Matsch, Spaziergängen und Pumuckl. Ein leises Aufstoßen nach den emotionalen und lukullischen Orgien der letzten Wochen, die ultimative Konturlosigkeit, in der man sich vor der Welt verstecken und in einem wolkengleichen Zeitkonstrukt ohne jegliche Definition sorgfältig verschwinden konnte, wohl wissend, dass am Ende die große Explosion steht, wohl hoffend, nach dieser voller Energie und Tatendrang wieder aufzutauchen, sich stolz in den Gongschlag der neuen Runde zu stellen und dort ordentlich mit den Ohren im Gegenwind zu flattern. Stattdessen muss ich beobachten, wie dieser weiße Fleck auf der kalendarischen Landkarte neu entdeckt und mit conquestadorischem Eifer besiedelt wird. Aus meinem geliebten „Zwischendenjahren“ werden plötzlich allerorts mit gewichtiger Miene „Raunächte“, was freilich aus Veranstaltersicht ganz prima ist, dauern die doch ungleich länger als das läppische Fleckchen auftragsloser Zeit und man sie entsprechend emsig befüllen kann mit Punschmärkten, Fackelzügen und Schifffahrten. Ich möchte mich der Renaissance des uralten Brauchtums keineswegs verschließen, ganz im Gegenteil begrüße ich es mit offenen Armen, schließlich kultivieren wir seit unzähligen Jahren voller hingebungs- und leidvoller Opferbereitschaft das gute alte „Stärk antrinken“ am 6.1. Auch mit anderen Raunachtsriten kann ich mich gut identifizieren und halte ich strikt an die Vorgabe, als jüngere Frau (moi!) zwischen Weihnachten und Silvester keine Wäsche zu waschen und aufzuhängen, weil sonst ja bekanntlich werweißwas passiert. Nein, es ist allein das Wort, das mich mit seiner Omnipräsenz bedroht: Rau-nächte. Ich möchte nichts Raues, nichts Stachlig-Eisiges mit spitzen Krallen und blutigen Augen, keine Roggenmuhmen und Perchten. Denn ich finde, die hatten dieses Jahr ihren Spaß. Was ich stattdessen will, das sind: Kuschelnächte, die öde Graslandschaften zu flauschigen Kissenwelten werden lassen. Wattenächte, in denen dürre, kahle Hecken flaumige Schmiegsamkeit anbieten. Daunenweichnächte, in denen behutsam Liebe gelacht und Freundschaft gezwitschert wird. Sanftnächte, deren dicke Baumstämme mich streichelnd fest umarmen und mit runzliger Großvaterhaut sagen: Es wird alles gut. Puderpinselnächte, die uns kichernd einladen, Platz zu nehmen und auf sahnigen Wolken davonzutreiben ins Nirgendwohin, ins Ganzweitweg und Dahintenwirdshell. Stattdessen halte ich meinen Teddy fest umklammert und sehe dem Jahr hinterm Vorhang versteckt dabei zu, wie es mit Krawall und Getöse verjagt wird – obwohl es sich, ich ahne es, so gern mit schlechtem Gewissen leise vom Acker gemacht hätte. Schmecke die Luft, die endlich so riecht, wie sie seit Monaten klingt. Ich streichle dem Teddy die Wange: Es wird alles gut. Nehme Anlauf und rutsche hinein ins neue Jahr. Vergnügt, gesund und hoffnungsvoll. Kommt ihr mit?

Freitag, 23. Dezember 2022

Lichtorgel

Einen wunderschönen guten Morgen zusammen, es ist Freitag, der 13. … Nein halt, Freitag, der 23., und ob das jetzt besser oder schlechter ist, könnt nur ihr selbst beurteilen, je nach Stimmung, Urlaubs- und Festtagsgewandslage. Ich für meinen Teil finde das Datum ganz vorzüglich, bin ich doch im Gegensatz zu vorhergehenden Jahren bereits seit Tagen in ganz besonders vergnüglicher Weihnachtsstimmung. Der Weg dorthin war vergleichsweise einfach, seitdem beispielsweise Freunde und Familie ihr Liebe zum Plätzchen backen entdeckt haben und die zum Teilen gleich mit, was ich nicht nur im christlich-weihnachtlichen Sinne gutheißen kann, sondern in meinem persönlich-aufopfernden ebenfalls, schließlich hilft man gerne und kommt der Aufforderung „Probier mal, geht das so?“ zwar widerstrebend, aber letztlich doch folgsam nach und entdeckt dabei den positiven Nebeneffekt, dass Plätzchen wirklich außerordentlich viel besser schmecken, wenn man a) nicht selbst mehrere Tage mit der Zubereitung verbracht und darob b) nur eine ungefähre Ahnung über die Zutatenliste hat. Noch ein leichtes Nusseckchen gefällig? Aber gerne doch! „Last Christmas“ habe ich mir in diesem Jahr bereits im September auf die Freibad-Playlist gelegt, damit sich Körper und vor allem Geist langsam und behutsam daran gewöhnen können – eine psychologischer Kniff, auf den ich stolz bin und der es mir heute ermöglicht, Gespräche ausschließlich in Textzeilenfragmenten zu führen: „Schönen guten Tag, Meier hier vom Finanzamt Nord.“ – „It’s been a year, it doesn’t surprise me!“ oder „Hast du zufällig vergessen, das Pastawasser zu salzen, Schatz?“ – „Now I know what a fool I’ve been!“ In meiner Wohnung, die zärtlich gestreichelt wird vom besinnlichen Blinken der verrücktgewordenen Glühbirne des Bürokomplexes gegenüber auf der einen Seite, auf der anderen mit schmetternden Buntlichtfanfaren aus den Untiefen der Lichtorgel eines ambitionierten Nachbarn sorgfältig Feierlaune aufzubringen weiß, verbringe ich meine Tage voller Vorfreude im diesjährigen Festtagsgewand, nämlich einer formschönen Jogginghose in Galaschwarz, die ich abwechselnd mit Fleecejacken (Heizung), um den Leib gebundenen Wärmflaschen (Heizung) oder meinem geliebten singenden Rentierpullover (Stimmung) kombiniere, um mich auf die Festtage auch körperlich vorbereiten und verschiedene feierliche Haltungen (sitzen, liegen, lümmeln) einstudieren zu können. In den Pausen produziere ich kunsthandwerkliche Gegenstände, um einerseits mich selbst gestalttherapeutisch zu beschäftigen, andererseits mit den so entstandenen Bastelarbeiten meine Familie mit einer kleinen, gegen alle Absprachen verstoßenden Bescherung zu beschämen. Weihnachten darf wegen mir jetzt kommen – und wegen euch hoffentlich auch. Ich wünsche fröhliche, friedliche Feiertage, ein warmes Herz und warme Füße!

Freitag, 16. Dezember 2022

Nach dem Essen sollst du ruh'n

„Meine Katze wie sie leibte und lebte“ schrieb neulich eine Freundin unter ein Foto. Darauf zu sehen: Ein Fellknödel vom Format mindestens eines durchschnittlich rekordverdächtigen Zuchtkürbisses, aus dessen Enden zwergenhafte Stummelbeinchen ragten sowie ein winzigkleiner Kopf, um dem Betrachter die Orientierung am Tier freundlicherweise zu erleichtern. „LEIBTE!“, hab ich da verliebt ausgerufen, „damit kann ich mich identifizieren! Ich leibe auch ganz besonders erfolgreich zur Zeit!“ Einen Vorteil hat die Fellkugel jedoch vor mir, nämlich einen Pelz, der die Speckrollen sorgfältig kaschiert und die Behauptung unterstreicht, das gewählte Outfit trage nur ein wenig unvorteilhaft auf. Ich habe sowas nicht und muss mir dafür mit zeltgroßen Wolljacken behelfen, die allerdings sagen wir mal so die Agilität und filigrane Eleganz, mit der ich sonst durch die Welt zu schweben pflege, spätestens nach dem gewaltvollen Verschluss des Wintermantels empfindlich einzuschränken pflegt. Fällt mir ein Handschuh auf den Boden, muss ich mit hochrotem Kopf Passanten um Hilfe bitten oder mit gleicher Gesichtsfärbung äußerst peinliche Verrenkungen vollziehen, um das Missgeschick auszubügeln. Jetzt kannst du sagen: Superclever, weil Winter, Eisbär, Isolierung. Oder du stehst da und wunderst dich, schließlich hast du gelernt, dass du nach dem Essen ruhn oder tausend Schritte tun sollst als ausreichende Maßnahme. Ich hab mir da mal ein paar mathematische Gedanken dazu gemacht, die vielleicht als vorweihnachtlicher Erklärungsansatz zum Thema „Explosionsartige Gewichtszunahme in Folge weniger klitzekleiner Adventssünden“ gereichen. 1000 Schritte, das entspricht ungefähr 40 Kalorien und die wiederum dem Gegenwert einer Grapefruit. Rechnen wir kurz einen durchschnittlichen Adventstag durch: Pizza Salami zu Mittag in der Redaktion „weil wir so viel geschafft haben dieses Jahr und Hanne eins ausgibt“: 400 Kalorien. Danach vier Vanillekipferln vom Kollegen „zum Probieren“: 480 Kalorien plus Lebkuchen „Gruß vom Chef“: 425 Kalorien. Später gemeinsamer Besuch mit Freunden auf dem Christkindlesmarkt. Hier traditionell Genuss einer schönen Portion Schaschlik: 450 Kalorien, darauf eine belgische Waffel mit Sahne: 600 Kalorien und den ersten Glühwein: 210 Kalorien sowie darauffolgend direkt einen zweiten, „und zwar mit Schuss bitte“: 260 Kalorien. Es folgen große Fröhlichkeit und unweigerlich ein Hunger auf Bratwurstsemmel: 350 Kalorien, gebrannte Mandeln „aber nur eine Handvoll“: 500 Kalorien sowie drei weitere Glühwein „so jung kommer nimmer zam“: 650 Kalorien und „eine Runde heißer Schnabbes für alle“: unbekannt. Die so leichthin gesammelten 4325 Kalorien können wir problemlos wieder abarbeiten, indem wir am Folgetag 45 000 Schritte tun – was je nach Schrittlänge einer Strecke von 27 bis 36 Kilometern entspricht. So. Ich wünsche besten Appetit. Und einen köstlichen dritten Advent.

Freitag, 9. Dezember 2022

Wunschzettel

„Jetzt müsstest du dann schon langsam mal deinen Wunschzettel schreiben, Kind!“ Magische Worte, die mir Jahr für Jahr der persönliche Startschuss für Advent und Weihnachten waren und gleichwohl der für eine emsige Betriebsamkeit. Weil es selbst in meinem Leben eine Zeit gab, in der ich noch nicht schreiben konnte und Malen zwar schön bunt und außerordentlich fantasievoll gelang, dafür aber rein gar nichts mit „Photorealismus“ zu tun hatte und deswegen größte Verwechslungsgefahren barg („Ich wohohohoolllte doch ein Skaaaaateboahohohooooord!“ – „Oh. Wir, äh, das Christkind dachte, das sei ein Bleistiftspitzer …“), bediente ich mich frühzeitig einer anderen und heute durchaus etablierten Kunstform, die erstens ausgesprochen hübsche Wunschzettel ergab und zweitens an Präzision durch nichts übertroffen werden konnte: die Collage, die ich in hingebungsvoller Kleinstarbeit mit Hilfe von turmhoch in meinem Kinderzimmer aufgestapelten Spielzeugkatalogen erstellte. Und beim Durchblättern praktischerweise bislang unbekannte Wünsche überhaupt erst entwickelte, da man auf der Suche nach der bekannten und pädagogisch wertvollen Welt des geschlechtsneutralen Holzspielzeugs unwillkürlich in die wundervoll rosa glitzernde der Barbies, kleinen Ponys und Polly Pockets stolpert. Fein sorgfältig hab ich also Seite um Seite durchforstet, um mit der kinderrunden Bastelschere ordentlichste Flecken auszuschneiden und damit übrigens eine Kernkompetenz zu schulen, schließlich galt es, so exakt zu schneiden, dass hernach Produkt samt Produktnummer und Preis deutlich zu erkennen waren und das Christkind nachher nicht wieder Ausreden bemühen musste („Ach du meintest das mehrstöckige pinke Barbiehaus? Das tut uns leid, wir waren uns sicher du meinst das kleine blaue Dreirad daneben!“) und dabei aber so platzsparend zu arbeiten, dass möglichst viele Wünsche artikuliert werden konnten. Auf diese Weise setzte ich den Spielzeugkatalog also Seite für Seite auf weißem Papier neu zusammen und verbrachte schöne Basteltage mit Hörspielkassetten … Heute sagt keiner mehr, ich soll Wunschzettel schreiben, nur die Post mahnt die rechtzeitige Aufgabe von Weihnachtsbriefen an, und statt mehrstöckiger Spielzeugkatalogtürme stapeln sich nur die Werbezettel umliegender Supermärkte auf dem Wohnzimmertisch, die durchaus wissen, Begehrlichkeiten zu wecken und Wünsche nach Unsinn (Serviettenringe, Etageren, Sous Vide Sticks, beleuchteter Duschkopf), jedoch auch Fragen aufwerfen. „Alles für Ihr Weihnachtsfest“ verspricht ein beliebter Feinkostdiscounter und zeigt neben Christbaumständern, Goldbesteck und Kuschelkaschmir Wundersames für das Weihnachtsfest: Abdeckfolie, Allzweckvlies, Gewebeband und Malerwalzen – das klingt nach einer verdammt heißen Party. Oder nach irgendwas, wo statt des Christkindes an Heilig Abend die Kripo klingelt.

Donnerstag, 1. Dezember 2022

Torschlusspanik

Hallo lieber Dezember. Schön dass du endlich da bist, wir haben sehr lange auf dich gewartet. Zwar eher ängstlich als sehnsüchtig, aber wen interessieren schon Details. Mich nicht, denn wenn ich mich jetzt auch noch in dezemberigen Detailfragen verlieren würde, läge ich längst kugelrund wie Gott mich schuf in einer schönen Höhle und beglückwünschte mich selbst zu der Idee, das Konzept „Winterschlaf“ nicht mehr nur still zu bewundern, sondern kurzerhand selbst auszuführen. So aber sitz ich kugelrund und dick eingemummelt an meinem Schreibtisch und bedaure mich selbst dafür, ein Sozialleben zu haben. Eine prinzipiell begrüßenswerte Einrichtung, keine Frage, aber im Dezember übertreibt es. Und weil sich das schon seit ungefähr Oktober abzeichnet, bin ich also seitdem etwas angespannt. „Du, wir müssen uns dieses Jahr unbedingt noch sehen!“, „Schaffen wir noch ein Treffen im Dezember?“, „Ich hab Sehnsucht nach dir, das muss dieses Jahr noch klappen!“ sind Nachrichten, die mich sowohl mit Freude als auch wachsender Panik erfüllen. Ich meine: Was passiert da eigentlich? Menschen scheinen eine Art Verabredungsstau auszubilden übers Jahr hinweg. Dann erfasst sie eine Panik, weil anscheinend gibt es so eine Art Treffensgrenze am Jahresende. So wie Urlaubstage: Wer bis 31.12. nicht getroffen ist, verfällt einfach. Insofern finde ich es freilich schmeichelhaft, nicht verfallengelassen zu werden, würde es dennoch begrüßen, vielleicht vom ein oder anderen ausnahmsweise noch ins kommende Jahr mitgenommen zu werden, denn was zum allem Überdru.. nein: Glück ja noch hinzukommt, das sind die dezemberlichen Heimkehrer. Schul-, Sandkasten- und Unifreunde, die man sich im Lauf der Zeit so angesammelt hat und die im Gegensatz zu mir hinausgezogen sind in die weite Welt anstatt in der faden Noris zu versauern. Doch weil du deine Wurzeln nicht verleugnen kannst, kehren die verlorenen Töchter und Söhne im Dezember freilich heim. „Ich bin am 1./2./3./4. Dezember-WE in Nürni, lass unbedingt treffen!“ heißt es dann, und während dein Herz jubelt und hüpft vor Freude, sackt dein Körper nurmehr in sich zusammen, denn man hat ja auch noch Arbeit, Leben, Weihnachtsfeiern und gelegentlich mal einen Schlaf zu bewältigen. Allen gemein ist: Ein Treffpunkt anderswo als auf dem Christkindlesmarkt wird gar nicht erst in Betracht gezogen, und auch das wirft Fragen auf. Denken Menschen wahrhaftig, ich käme nicht von allein in den Genuss des Weltberühmten und sie führen mich dann einmal aus? Oder aber liegt der Gefallen in der Annahme, ich lebte ohnehin Tag und Nacht am Weihnachtsmarkt und man möchte mir möglichst wenig Umstände machen? Beides gibt mir zu denken. Dezember, wir müssen reden! Wegen mir gern auch erst im Januar!

Freitag, 25. November 2022

Boykott Katarrh

Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all nach Nürnberg herkommet – dem Weihnachtsmarktstall. Und seht was mit Glüüüühwein, Christkiiind und Schmuckpraaaaacht das Maaaarktamt im Advent für Freeeeude euch maaaacht! … Husthust … Mimimimiiii … Ja ok, bisschen eingerostet das Ganze, aber hey: Es hat ja in der Vergangenheit doch eher relativ mau ausgesehen mit Christkindlesmarktschreierei, insofern sei mir das Gekrächze bitte verziehen. Sogar doppelt. Weil an mir nagt einmal mehr der Zahn der Zeit. Nein, wie sagt man, wenn man so ganz vorne dran ist dabei bei einer wichtigen modischen Entwicklung? Jedenfalls seit einer knappen Woche ist man etwas aufgeregt, manche gar im Fußballfieber. Hab ich mir gedacht: Da machst du eh mit, nur hab ich dabei den Fußball weggelassen und mich nurmehr fürs Fieber entschieden. Anpfiff war ordnungsgemäß am Sonntagnachmittag, wo ich mir das erste Mal gedacht hab: Ja, du, also … puh. Dann gab’s Montag direkt ein schweres Foul mit Blutgrätsche und seitdem lieg ich halt umeinander. Ein Mordskatarrh. Rote Karte wüsst ich mindestens auch eine zu adressieren, nämlich hat ein paar Tagen zuvor der süßeste laufende Meter der Welt einen Nachmittag mit großer Ausdauer immer erst schön in seiner laufenden, nein: sprintenten Nase herumgerührt und dann mir mit der selben Hand liebevoll die Wange gestreichelt. „Eiei.“ Ich bin noch in Verhandlungen mit dem Kindsvater, der sich diese Unverschämtheit verbittet und jede Schuld mit großem Handspiel zurückweist, aber für mich braucht’s da keinen Videobeweis. Und ich muss schon sagen: Es ist erstaunlich, wie so ein winzigkleiner, also fast beinahe unsichtbarer Zwergenmensch eine Schnupfenbazille entwickeln kann, die so eine ausgewachsene Immunverteidigung wie die meine einfach mir nichts, dir nichts aus den Latschen hebelt. Aber bei so einer Kita handelt es sich ja in Wahrheit um eine Art biochemisches Labor, wo tagtäglich eine schöne bunte Tüte Krankheiten hineingekippt wird und dann rühren sie drin herum und schwitzen und busseln und machen ein 1A-Klima und tadaa: Superschnupfen. WIE super, kann man daran erkennen, dass er meinen quasi gesamten Freundeskreis ebenfalls befallen hat – und das ohne dass wir uns gesehen haben. Telepathische Ansteckung! Vielleicht kann man’s mit ein bisschen gutem Willen aber auch als eine Art Trainingslager sehen für die ganzen vielen schönen kuscheligen Innendrinfeiern und glühweinseligen Umarmungsbegegnungen, die uns jetzt bevorstehen. Womöglich ja auch mit eher so kompetitivem Charakter: Wer wird am Ende alles im Bett liegen, wer in der letzten Woche des Turniers noch auf dem Platz, äh Hauptmarkt stehen? Der Sieger liegt dann unterm Weihnachtsbaum. Schlachtruf: Boykott Katarrh!

Freitag, 18. November 2022

NEINkauf

Vor einigen Tagen habe ich versehentlich eine tolle Erfindung gemacht, die mich so begeistert, dass ich euch sogleich davon erzählen muss. Die Erfindung ist gut für euer Portemonnaie und auch die Umwelt, spart sie doch nicht nur Geld, sondern auch Ressourcen, bewahrt euch vor Enttäuschungen im nie enden wollenden Reigen der Begehrlichkeiten und ist damit von vorn bis hinten en vogue. Die Erfindung heißt „NEINKauf“, und das geht so: Schwer gebeutelt von einem unerklärlichen, aber dafür umso dringenderen Wunsch nach Veränderung im heimischen Nest äußerte ich selbigen schüchtern beim Frühstück, und schon wenige Tage und 17 verschieden vorgetragene Wiederholungen (Och bitte … Hmmmm? … Aber warum denn nicht? … DOCH! Aber … aber … BÜÜÜÜÜTTÖÖÖÖÖÖÖÖ!) später gab es auch schon einen Ausflug in das Geschäft mit dem gelb-blauen Logo, das voller Krempel ist, den man eigentlich nicht braucht, aber vergleichsweise so günstig, dass man’s dann doch haben will: Tedi. Nein Schmarrn, Ikea selbstverständlich. In meiner Begleitung: große Pläne (Kanapee, diverse Lampen, Regalkonstruktionen und sogenanntes „Zubehör“) sowie (jetzt kommt der Trick!) die selbsterklärte Stimme der Vernunft, die meinen fröhlichen Schritt zum Eingang hin schon mit magischen Worten sorgfältig auszubremsen wusste („Warum sind wir jetzt gleich wieder hier?“) und zwar auf meine Frage, ob man sich in zwei Stunden im Småland wieder treffen solle, Zurückhaltung schwor, diesen Schwur jedoch bereits am ersten Stopp brach. „Aber so viel tiefer als die alte Couch ist jetzt die hier doch auch nicht?“ stellte er mir interessierte Fragen und zog mich sanft durch die Abteilungen. Es folgte eine Reise der Entbehrung, an deren Ende ich mit leeren Händen stand. Weder Kanapee noch neuer Schreibtisch („Wir können den alten doch auch erstmal anders hinstellen“) wurde mir vergönnt, kein Regal („Das bau ich lieber selbst.“) noch Küchenschränke („die auch“), Zimmerpflanzen („fahren wir lieber in eine echte Gärtnerei“), Vorhänge („reicht’s nicht, wenn wir die alten einfach waschen?“), Sofakissen („Sehr schön, das sieht aus wie ein Anus!“), Schrankschübe („wir können doch die ausgerissenen Henkel sicher wieder annähen“) und noch nicht mal eine sehr wichtige neue Ordnungsbox durfte ich haben („Wenn dich der Deckel von der Kiste nervt – wieso tust du ihn dann nicht einfach weg?“). Wohin ich auch meine Sehnsucht richtete, ich hörte: nein! Nein. Nein. NEIN. „Das ist der enttäuschendste Ikea-Besuch meines ganzen Lebens! Das ist kein Einkauf, das ist ein NEINkauf!!“, hab ich aufs Kassenband geweint und mich dabei fest an eine Packung Stumpenkerzen geklammert. „Aber du musst zugeben: auch der günstigste“, sprach die Stimme der Vernunft. Ja. Ich fühl mich auch gleich viel besser.

Freitag, 11. November 2022

Pelzmärtel vs. Nikolaus

Eine kleine Volksliedübung zum Einstieg: „Ich geeeeh mit meiner Laateerne, und meeeeine Lateeerne mit miiiir. Dort ooooben leuchten die Steeeeerne, hier uuunten lo-hoiichten wiiiir. Nänääää nänä, nanäää nänä, RABIMMEL RABAMMEL RABUMM BUMMBUMM!“ Super, jetzt seid ihr textsicher und gewappnet für die kommenden Wochen. Liebe Freunde, ich sag’s wie es ist: Gestern noch drüber amüsiert, dass „zartschmelzend“ eine ganz neue Bedeutung bekommt, wenn man Schokoniko… Wie ist die Mehrzahl von „Nikolaus“? Nikoleen? Nikoläuse? Nikolauser? also die jedenfalls bei 35 Grad Außentemperatur im August vom Supermarkt nach Hause schleppt, weil man irgendeiner postinfantilen Versuchung aus glitzerndem Stanniolpapier (und vielleicht auch der sommerlichen Duftfolter aus Lebkuchensmog, man müsste da vielleicht mal einen Zusammenhang untersuchen) erlegen ist und dann daheim erst einmal den pappigen Schokoschmier von Brot, Eiern und Knoblauchzopf im Einkaufssackerl entfernen muss, und heute, kaum drei Wimpernschläge später, ergibt plötzlich alles einen Sinn. Ja ok, nicht wirklich, aber halt mehr als vorher. Weil: Pelzmärtel ist. Oder für die anderen Zugezogenen: Martinstag. Ich als waschechte Arbeitsmigrantin zweiter Generation mit niederbayerisch-katholischem Kulturhintergrund fand eure fränkische Idee vom Gutzerlbringer im roten Gewand schon immer prima. Spezialprima schon allein deswegen, weil er vier Wochen vor dem Nikolaus vorbeikommt, im Gegensatz zu diesem seine Gaben still und höflich des Nachts in vor die Tür gestellte Gummistiefel legt (und allein dadurch schon seine außerordentliche Tapferkeit beweist, ich mein, wer versenkt denn freiwillig seine Hand in einen getragenen Gummistiefel?) und dafür noch nicht einmal etwas erwartet. Der Nikolaus derweil: Angstgegner! Großeltern, Freunde und Familie versammeln sich, so dass dem Kind (mir) direkt klar ist: Jetzt wird’s ernst, und dann klingelt’s und herein kommt ein riesiger Mensch in einem Mordsgewand mit einer meterhohen Haube auf dem Kopf und einem Wahnsinnsspazierstock und dann Flüstern und Stille und schließlich zerrt dich eine Mutterhand unter dem Kanapee hervor, wo du zitternd liegst und panisch dein Gedicht zu memorieren versuchst, das du extra für jetzt hast lernen müssen. Und dann schiebt man dich in bedrohliche Nähe zu dem Fremden, und noch bevor du den Gedanken „Verrückt, der hat die gleichen Schuhe wie Onkel Uli!“ formulieren hast können, sagst du plötzlich „LIEBER GUTER NIKOLAUS, ZIEH MAL DEINE HOSEN AUS!“ und dann Gelächter und Schimpfen und Tränen und trotzdem Geschenke … nicht einfach. Deswegen: Pelzmärtel. Der hat zudem ein Pferd und außerdem im Gegensatz zum Nikolaus, der halt irgendwie Truckerfahrer war oder sowas in der Art, eine endscoole Heldenstory. Es muss darum also natürlich heißen: Ein Liiiichtermeeer zu Maaartins Eeeehr! Dankt mir später.

 

Freitag, 4. November 2022

Was im Busch

 Heute war so ein Tag, an dem ich dringend den Kopf frei kriegen musste. Der war nämlich über Stunden hinweg pickepackevollgestopft worden mit neuen Informationen und drohte beim kleinsten weiteren Sinnesreiz kurzerhand überzulaufen. Weil niemand eine Hirnsuppe vom Parkett wischen möchte, hab ich mich eilig ins Hinaus begeben, um im liebsten Grün der Innenstadt weite Kreise auf bekannten Wegen zu ziehen. Für gewöhnlich bleibt man hier von Aufregern jedweder Art weitestgehend verschont, es sei denn, man ist eine Jungmutter, die gemeinsam mit vier Artverwandten als Schlachtflotte mit Thule- oder Boogaloo-Streitwagen durch den Stadtpark pflügt und ein entgegenkommender Flaneur aus Versehen mit seinem zuckersüßen Bonbonatem zu nah an den Nachwuchs herangeatmet hat. Dann: Aufregung. Sonst: Rollstuhlfahrer, Wackelzwerge, hier und da ein Wauwau, alles superfriedlich, und deswegen spezialgut geeignet für so ein anständiges Kopffreikriegen. „VERPISS DICH DU DUMME FUDDE! UND GLOTZ NET SO SAUBLÖD, ALTE!“ hat mich darob ausgesprochen unerwartet ein herbstlich coloriertes Gebüsch angeschrien, an dem mein weiter Blick einen Moment hängengeblieben war, um in der Untiefe des bereits prächtig gelüfteten Gehirns zu forschen, ob jenes mir einen Streich spielte oder unweit von mir sowie allen anderen Spaziergängern ein Frauenpopo in der Abendsonne gleißte. Hilfsbereit sagte ich zum Gebüsch: „Da hinten ist fei ein Klo.“ woraufhin dieses mich wenig kooperativ zum Teufel jagte und die Flüche mit feinen Argumenten unterstrich, die ich minder („ZU WEIT!!“) oder mehr („UND AUßERDEM SAUEKLIG!“) akzeptieren konnte und mich begleitet von wohlmeinenden Wünschen („KÜMMER DICH UM DEINE EIGENE SCHEIßE!!“) vorerst empfahl. Das Problem einer peinlichst dringenden Notdurft ist mir ja kein Unbekanntes. Erst am Wochenende musste ich mein Bedürfnis dem ausgesprochen strengen Blick einer Einlassdame am Theater unterordnen („Nein, Sie gehen jetzt nicht mehr aufs Klo, sondern da rein!“), um mich während der darauffolgenden knapp eineinhalb Stunden eingehend mit dem Konzept „Windel“ zu beschäftigen und zur Pause das Kunststück zu vollbringen, mit zusammengekniffenen Beinen zu sprinten. Auch hab ich mich schon in Flugzeugen wegen „wir landen doch eh gleich“ in die Nähe eines Blasenrisses manövriert, kenne jede Autobahntoilette im Umkreis von 100 km außerhalb Nürnbergs sowie sämtliche in Frage kommenden Örtchen darin, habe das Konzept „nette Toilette“ quasi erfunden sowie Herrentoiletten schon zu unisex erklärt, noch bevor das Wort „nonbinär“ auch nur das erste Mal gedacht worden war. Und trotzdem würde ich im Lebtag ni… Moment mal, ich wollte doch eigentlich den Kopf FREI bekommen. Stattdessen lauter unwichtige Gedanken! Supervoll! Wie meine Blase. Ich muss mal schnell …  

Freitag, 28. Oktober 2022

Frag Mutti

 „Wünsche ans Universum“ kennen wir, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Momentan eher das Universum mir was sagen will. Nämlich auf Werbeplakaten, Fernsehkanälen und Instagram. „So bist du gut auf die Krise vorbereitet“, „Mit dieser Einkaufsliste kommen Sie sicher durch den Winter“ oder „Diese Lebensmittel solltest du daheim haben“ fordern mich Katastrophenschutz, Öffentlich-Rechtliche und regionale Onlineplattformen diskret zum bevorratenden Einkauf von Nudeln (Juhu!) und Dosenobst (Pfui Deifi!) auf. Ok, was ein „Prepper“ ist, haben wir schätze ich alle verstanden, seitdem vor gut zwei Jahren urplötzlich alle Welt erst in die industrielle Hefezopf- und Bananenbrotfertigung eingestiegen ist, dann Klopapiermumie und Gummitwist gespielt und jetzt im Sommer ausgedehnte Sonnenblumenölbäder genommen hat. Damals schon wie auch heute lächle ich milde angesichts der Bemühungen der süßen Prepper-Babys und möchte ihnen sanft übers lockige Haar streicheln und sagen: „Das wird schon, übe noch ein bisschen. Und wenn du Fragen hast, dann komm zu Mutti.“ Also mir. Das Preppertum hat bei uns in der Familie Tradition, nur nennt man es da „angebotsorientierte Einkaufsoptimierung“ (nicht, nennt man nicht so. Nur ich.), weswegen ich schon als Kind gelernt habe: Man kann ALLES bevorraten, auch Schuhe, Hosen oder Motorenöl. Wenn Menschen mich auslachen, weil ich vom allerliebsten Lieblingssneaker immer ein fabrikneues Ersatzpaar zu Hause habe, sage ich: „Und ich lach dich aus, wenn du den Schuh als Impulskauf für den doppelten Preis tätigst statt wie ich vorausschauend im Angebot.“ Dieses Verhalten kombiniere ich geschickt mit einem anderen. Wie wir neulich gelernt haben, gibt es in meinem Haushalt zwei dominierende Persönlichkeiten. Die unkreativ-planend-strukturierte sowie die impulsiv-farbenfroh-schillernde: mich. Diese zweite tätigt Einkäufe im Lebensmittel- und Drogeriesegment niemals mit Hilfe schnöder Listen, sondern spontan anhand einer bauchgefühlten Bedürftigkeit. Soll meinen: sobald ein Produktnotstand theoretisch demnächst drohen könnte, speichere ich diese Sorge in den Eingeweiden und behalte sie dort über mehrere Einkaufszyklen hinaus. Auf diese Weise bringe ich beispielsweise von jedem Einkauf zwei Dosen Tomaten, Toilettenreiniger (im Angebot!), Butter (ANGEBOT!) oder Zwiebeln mit, um daheim am sich durchbiegenden Vorratsregal oder einer Gefriertruhe voller Butter meinen Irrtum zu erkennen. So letzte Woche: „KREISCH! Spülmaschinentabs sind im Angebot, dasistsuperweilbrauchenwireh!!!“ Daheim durfte ich feststellen, dass die leere Packung noch 15 Tabs beinhaltete – was in etwa dem Verbrauch von sechs Wochen entspricht. Aber was soll’s: Was man hat, hat man. Und was ihr nicht habt, hab ich. Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein. 

Freitag, 21. Oktober 2022

Jetzt wie Oma

 Angeblich ist es ja so, dass je älter ein Mensch wird desto mehr Ähnlichkeit mit seinen Eltern bekommt man. Ich habe diese Phase offenbar übersprungen: Vor einer Woche habe ich einen evolutionären Schub erlitten, mit dem ich so nicht gerechnet hatte. Wann immer ich mein Spiegelbild irgendwo erhasche – und zugegebenermaßen erhasche ich es seit eben dieser Woche vergleichsweise häufig – denke ich mir nicht etwa: „Jetzt siehst du aus wie deine Mutter.“ sondern vielmehr: „Jetzt siehst du aus wie deine Oma.“ Geschuldet ist der Umstand einer neuen Brille (oder Nasenfahrrad, wie der Witzbold sagt), die es gibt, weil die alte doch nicht so bruchfest war wie gedacht. Wohlwissend, damit mal wieder einem Trend drei Jahre hinterherzuhinken, habe ich mich für ein goldrahmiges Gestell entschieden und damit eine weitreichende Veränderung von cool-mafiös hin zu omamäßig-soft an mir vollzogen. Weg mit dem schwarzen 20er Jahre Gangster-Gestell, das mir in den letzten Jahren einen angeblich etwas strengen Ausdruck ins Gesicht kalligraphiert hat – her mit dem blitzenden Geschmeide, das mich nur mehr schmückt statt dominiert. Irgendwie so war der Gedanke. Ich möchte nicht direkt von einer Wesensveränderung sprechen, bin aber doch täglich mehrmals überrascht und auch erleichtert, dass die Gesichtserkennung vom Handy noch funktioniert. So wie auch in der Herrenmode der Grat zwischen „Hipster“ und „verlotterter alter Mann“ ein ausgesprochen schmaler ist, scheint es mit den goldenen Brillen eine unsichtbare Altersgrenze zu geben, an der entlang Frauen nach links ins „coole It-Girl“ kippen oder eben rechts ins „vorzeitig gealtert“. Ich balanciere jetzt auf dem schmalen Seil dazwischen, während Omas Goldkette auf meiner Brust wogt statt auf der ihren, und überlege dabei, ob ich mir jetzt auch Nagellack in Perlmutt-Rosé und blaue Wimperntusche zulegen oder doch besser bei Knallrot und Tiefschwarz bleiben sollte und wann wohl der Zeitpunkt gekommen sein wird, an dem „Leoprint“ wieder nur mir und dem Seniorenheim gehört und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass „ich“ und „Seniorenheim“ dann eine Liaison eingegangen sein werden. Immerhin: das passende Outfit hätt ich schon, man muss die Modetrends nur aussitzen, und das kann ich ziemlich gut, doch fühl mich mittlerweile ausgesprochen alt dabei, während ich andere (jüngere?) Frauen für ihren nonchalanten Chic bewundere, Oma-Look (Gold) mit Punk (5cm-Tunnels) zu kombinieren. Eine Sache hatte mir Oma allemal voraus: Bis ins hohe Alter ist sie auf Pfennigabsätzen durchs Leben gestöckelt. Ich bin seit zehn Jahren froh, wenn die Sohle vom Sneaker nicht dicker ist als einen Zentimeter. Immerhin damit komm ich doch ganz nach meiner Mutter.

Freitag, 14. Oktober 2022

Ihr Warmduscher!

 Jede Zeit bringt ihre Helden hervor, und so gibt es aktuell neben vielen still vor sich hin superkräftenden Menschen, die sich aufopfernd kümmern, wahnsinniges leisten und großherzigst arbeiten neuerdings einen ganz besonderen Wettbewerb, von dem ich ahne, dass er trotz eifrigst geäußerter Teilnahmebekundungen erst in den Startlöchern steht: die „Wer friert am besten“-Challenge. Menschen treffen sich an der Ampel und sagen „Ich habe mir fest vorgenommen, die Heizung nicht vor November anzuschalten.“ statt „Wie geht’s?“, sie begegnen sich beim Einkaufen und bemerken „Also ich kann ja frisch gebrühten Ingwer-Tee nur empfehlen, der wärmt so schön von innen.“ statt „Ey hast du gesehen, der 7er Havana ist im Angebot.“ Sie spazieren nebeneinander im Park und referieren „Ich hab mir überlegt ich könnt ja stricken anfangen weil dann bleib ich abends quasi eh immer in Bewegung und hab dann auch gleich noch was Warmes zum Anziehen.“ statt „Ich hab noch einen 40%-Gutschein bei XY, soll ich dir den Code schicken?“ und dealen abends in der Kneipe Herrschaftswissen („Mir hat mal eine Marktfrau erzählt, dass sie sich im Winter Chilischoten zwischen die Zehen steckt und dann immer warme Füße hat, sollen wir das mal ausprobieren?“), und schmieden ausgefuchste Pläne („Wir können uns ja abends dann immer reihum bei einem von uns treffen, dann muss man nur ein Wohnzimmer warm machen.“) wobei die besonders gewitzten sich manchmal als in Wahrheit vielleicht nur etwas bauernschlau erweisen („Haha, ich dusch jetzt halt einfach nur noch im Fitnessstudio und dafür extra lang, weil kostet mich ja nichts.“) Die alles beherrschende Schlagzahl, das finale Totschlagargument im Kampf um die härteste Sau ist hierbei selbstverständlich die über alles und jeden und ganz vor allem persönliche Empfindlichkeiten erhabene Raumtemperatur. „Bitte WIE VIEL Grad hat es bei dir zu Hause noch? ZWANZIG?! Du heizt doch heimlich schon? Nein? Also komm, dann brauch ich mit dir ja wirklich nicht mehr weiterreden, bei mir sind es 16 und der Herbst hat noch nicht mal ANGFANGEN!“ Bedauerlicherweise muss auch ich derzeit an diesem Punkt der Competition aussteigen, verfügt mein Loft doch über eine viele Meter breite Fensterfront nach Süden, der zur Folge mir just in diesem Augenblick die Oktobersonne die rechte Schulter wie mit einem Brennglas versengt und den dunklen Boden mit Wärme betankt. Noch bin ich also fein raus. In der Zwischenzeit hätte ich eine für weniger dyskalkulatorische Menschen als mich eine kleine Rechenaufgabe mit der Bitte um Lösung bis kommende Woche: Wie groß muss die Bildschirmdiagonale eines ultraflach HD-TVs sein, um bei wie langem Betrieb wie viel Wärme abzustrahlen, um dabei Heizkosten in welcher Höhe zu sparen? Antworten bitte per Mail. Codewort: Warmduscher.

Samstag, 1. Oktober 2022

Ab in die Botswana

 Eine alte Bekannte von mir war fit in Wortspielen. Wenn sie sagte „Heut Abend geh ich nach Botswana“ hieß das, sie würde später ein Bad nehmen statt sich in der Kneipe zu treffen. Mir fällt das grade ein, weil gestern war ich nämlich auch in Botswana. Eine für die meisten von euch vermutlich nicht weiter spannende Information, sondern vielmehr alltägliche Handlung der Reinigung, Wellness und Entspannung. Für mich problematisch, weil Badewanne bedeutet Zwangsstillegung, Unbequemheit und Stress und kann deswegen nur in Ausnahmesituationen als ultima ratio herangezogen werden. So zum Beispiel „Ich hab Halsweh und mir ist arschsaukalt schon den ganzen Tag. Ich glaub ich muss in die Badewanne.“ Wenn ich gewusst hätte, welch sagenhafte Handlungskette größter Betriebsamkeit diese nebensächliche Information auslöste – ich hätt’ sie mir verkniffen. „Mir war nicht klar, dass ‚Badewanne‘ ein Codewort für ‚Wohnungsputz‘ ist!“ hab ich gejammert und den Toilettenrand dick mit Reinigungsschaum ausgekleidet, während im Arbeitszimmer Aufbewahrungsschachteln durcheinandergewürfelt wurden und im Waschbecken Wanderschuhe eingeweicht sowie im Flur großformatig Kabel einer Schlagbohrmaschine zu den selben Mandalas ausgefächert lagen, die ich eigentlich in einem Bett aus wohlduftenden Blubberblasen längst gern gemalt hätte. Doch es kam anders. Weil ich lediglich die ungeliebte Wanne (zu kurz, zu eng, zu wenig Kissen) wenigstens kurz wischen wollte, kam mir der Gedanke, dass wenn Lappen und Reiniger schon in der Hand sind, damit auch geschwind das Waschbecken durchgefeudelt werden könnte und weil’s ja nur ein Handgriff mehr ist auch das Klo. In der Zwischenzeit trug der Mann („Gell, du möchtest einfach nur, dass es mir möglichst gut geht. Und nicht etwa, dass ich möglichst lange in der Wanne bleibe, damit du möglichst lange Ruhe vor mir hast?“) beflissen Hocker, Tee und Kerzenschein ins Badezimmer und frug, wonach ich mich noch sehnte. „Nichts weiter, und bei dem Licht hier lauf ich auch nicht Gefahr, einzuschlafen und zu ertrinken“, bemerkte ich mit Blick aufs gleißende Halogen. Weswegen eine Klemmlampe im Vorratsraum abgebaut wurde. Weswegen ein Verlängerungskabel fürs Bad gesucht wurde. Weswegen eine Mehrfachsteckdose gesucht wurde. Weswegen dabei eine Aufbewahrungsschachtel gefunden wurde. Weswegen darin Festplatten („Die müsste man mal durchschauen!“), Handyschutzfolien („Das Handy gibt’s ja gar nicht mehr. Die stell ich schnell bei Ebay ein.“), Smartphonehalterungen („Das hast DU unbedingt haben wollen und jetzt liegt’s originalverpackt nur rum!“) gefunden wurden. Weswegen Platz für einen Klemmspot geschaffen wurde. Weswegen eine dabei entdeckte Pflanze dringend umgetopft werden musste. Weswegen man doch eigentlich das neue Schuhregal … Ich sag mal so: Halsweh ist jetzt weg, ich fühl mich pumperlgesund. Nach Botswana muss ich erstmal nicht mehr.  

Freitag, 30. September 2022

Einkaufszettel

 In vielen Dingen unterscheiden sich der Mann und ich ganz grundsätzlich. Schlafrhythmus beispielsweise (Eule vs. Lerche), Essensvorlieben (Gummibärchen vs. Schokolade) oder Cineastic (Schießen vs. Arte). Das ist alles kein Problem, man weiß sich da zu arrangieren. Doch regelmäßig derangiert wird die Harmonie, wenn es um den Einkauf geht. Denn während ich diesen elegant und optimiert aus dem Gedächtnis zu tätigen pflege, schreibt der Mitbewohner lange Zettel voller Wichtigkeiten, die ich von Zeit zu Zeit in die Hand gedrückt bekomme. Selbstverständlich erledige ich diese Aufträge ger… sagen wir: Ich akzeptiere sie als eine Mischung aus Gedächtnistraining und unverbindlicher Handlungsempfehlung. Alternativ blieben mir sonst im Lebensmittelfachgeschäft Episoden der Verzweiflung, des Zorns oder völliger Resignation. Denn es finden sich auf dem Einkaufszettel in größtmöglicher Effizienz verfasste Notizen. Will sagen: Sauklaue, die zu entziffern mir selbst mit größter hieroglyphiler Anstrengung zuweilen schlichtweg unmöglich ist und ich im Laden mehr Zeit mit der Decodierung verbringe als dem Einkauf selbst und ratlos auf den Einkaufszettel starre. Als da wären auf dem aktuellen Werk: Flaschenborsten groß melken. Flafuhacken. Bauaveu. Piulul (rauchies!. Przkönig. Seelene. Neonspreg. Mügtl. Gelegentlich muss ich anrufen und nachfragen. So auch dieses Mal. „Ich kann dein Geschmier schon wieder nicht lesen. Da steht ‚Tontöpfe + Teelichte‘, was soll das bedeuten?“ frug ich ungehalten in den Hörer hinein und erfuhr Erstaunliches: „Na Tontöpfe und Teelichte halt.“ Man habe, dozierte es am anderen Ende der Leitung, gelesen, es sei möglich, mithilfe eines tönernen Blumentopfes und Teelichten eine Mini-Heizung zu bauen. Man könne dem zwar nicht richtig Glauben schenken, wolle sich dennoch gerne und zumal in Anbetracht der Umstände einem Experiment unterziehen, nicht zuletzt ließe dieses den (meinen) diversen Impulseinkäufen (Kerzen) im schwedischen Fast-Furniture-Store (Ikea) auch endlich eine sinnvolle Verwendung angedeihen … In der Tat reichen seriöse Webseiten (Laternen-Welt.de, Amazon.de, Pinterest.de) allerlei kluge DIY-Anleitungen für den vermeintlich kostengünstigen Mini-Ofen an, und es ist ein schönes Bild, das da entsteht: Viele kleine Öflein machen die Bude warm und feines Licht. Glaubt man allerdings den noch seriöseren Seiten (Heizungsbauforum.de, Stromausfall.info, br.de), so müsste man die Bude mit je nach Größe hunderten solcher Tonöfen bestücken (mindestens 1 pro m²), um auch nur ansatzweise sinnvolle Wärme zu erzeugen. Nach eingehender Recherche konnte man sich darauf verständigen, doch besser konventionell zu heizen. Will sagen: Die alten Winterreifen zu verschüren, die seit längerem auf ihren Abtransport zum Wertstoffhof warten. Und wenn mir kalt ist, geh ich einkaufen. Beim Entziffern wird’s mir dann schon warm.  

Freitag, 23. September 2022

Herbstgespräche

 Ich bin gerade bei meiner hauptberuflichen Nebentätigkeit auf einige Exemplare einer seltsamen Sache gestoßen. Zwischen eindeutig als Socken, Shirts und Schlüppis identifizierbaren Teilen verbargen sich auf der Wäscheleine Dinge, die auf den ersten Blick Hosen zu sein schienen, auf den zweiten sich hier aber ein mimikrybedingter Irrtum zeigte, fehlten den Teilen doch knieabwärts definitiv zu viel Stoff, um irgendeinen Sinn zu ergeben. Außer vielleicht man durchschreitet grad als lustiges Trachtenkasperl die Nebelwände auf dem Altstadtfest, hab ich mir gedacht und mich tief in meinen Wollschal gedrückt, in den ich von Kopf bis Fuß gewickelt war. Ok cool: Herbst, haben die meisten jetzt wahrscheinlich mitgekriegt. Kam jetzt vielleicht ein bisschen überraschend, grad noch im Bikini zu dreißigst unter einen Baum in einen bierfilzgroßen Schatten gedrückt und dann Abrakadabra und du stehst mit den selben 30 Personen eng aneinander, bloß halt jetzt in Pinguinmanier unter einem triefenden Schirm. Und während der Herbst den Sommer an den Haaren aus dem Raum schleift und dir dabei eine gehörige Portion Nieselregen ins Gesicht speit, denkst du dir, dass er sich schon auch nicht beschweren muss, der Herbst, und neidisch sein, weil die arg lustigen und verliebten Gedichte immer nur über den Frühling geschrieben werden und im Herbst halt eher so Depression, Trennung, Schokopudding. Dafür haben wir aber für den Jahreskanon der Befindlichkeitsäußerungen allerlei kluge Sätze parat, die uns mit Grandessa auch noch durch das miesepetrigste Flurgespräch steppen lassen. Wir zücken also bitte unser Vokabelheft und üben gemeinsam die folgenden Debattenbeiträge aus 1. dem Themenfeld „Kleidung“: Am Wochenende räum ich die Winterjacken her. Endlich wieder Kuschelhose! Ich glaub die Sandalen tu ich dann mal weg. Ist schon auch schön irgendwie so mit Socken. Ich lieb ja meine Schals. Morgens auf dem Radl brauch ich fei Handschuhe. Man muss halt einmal in eine Outdoorjacke investieren, da hat man ja auch lang was von. Weiterhin das Themenfeld 2 „Essen“: Eigentlich ist jetzt schon eine gute Zeit für Glühwein, im Dezember ist es dann wieder zu warm. Lebkuchen im Sommer ist widerlich, aber um ehrlich zu sein so langsam … Heut Abend koch ich mir endlich die gute Kartoffelsuppe. Waaas aus Kürbis kann man doch soo vieeel machen!! Ich glaub ich bin jetzt im den Alter für einen Bierflaschentauchsieder. Also das mit den Maronen daheim klappt einfach nicht. Und schließlich 3. das Themenfeld „Freizeit & Wellness“: Mensch ich glaub ich geh dann in die Badewanne. Dieses Jahr möcht ich endlich einen Drachen steigen lassen. Hast du einen Serientipp? Ziech dei Gummischdiefl ou, mir genna in die Pfiffer! Und last but not least: In drei Monaten ist fei auch schon wieder Weihnachten!

Freitag, 16. September 2022

Glückshandschütteln

 Ich warte gerade auf den Kaminkehrer. Dieser hat sich zu einem Ortstermin, also Wohnungsbesuch heute Vormittag angekündigt und ich bin, nun ja, ein wenig aufgeregt. Nicht dass ich einen Kamin hätte, der sehnsüchtig darauf wartet, mit vielen schönen Klaftern Holz befüllt zu werden und darob auf eine gewisse Rußtüchtigkeit geprüft werden müsste, sondern verschandeln meine Wohnung lediglich profane Heizkörper, die zu prüfen und reinigen es mutmaßlich keiner Leiter und auch keines Zylinders samt dickborstiger Bürste bedarf. Aber natürlich ist der Prüfvorgang beim Kaminkehrerbesuch nur zweitrangig. Erstrangig ist, dass ich natürlich im Moment des Türöffnens seine oder ihre Hand, sei die nun ruß-, öl- oder schweißverschmiert, ergreifen und beherzt schütteln möchte. Um genau zu sein möchte ich sie auch dann noch schütteln, wenn der Mensch seinen Dienst verrichtet, der mit ein bisschen guten Willen bestimmt auch einhändig ausgeübt werden kann, sowie am besten auch noch während einer dargebotenen Tasse Kaffee sowie allerlei weiteren Finten, die ich bemühen könnte, um den Glücksbringer möglichst lange an meiner Seite zu haben. Es steht wohl außer Frage, dass wir ein bisschen Glück eh immer brauchen können, die ein oder anderen grad vielleicht ein bisschen mehr, und da muss man eben nehmen, was man kriegt. Ich persönlich hab grad einen ganz guten Lauf, das gilt es, auszunutzen. Vor ein paar Tagen bin ich zufällig in eine feine Kolonie prächtigster Fliegenpilze gestolpert. Manche frisch und prall und jung, andere älter, fransig und randvoll mit Zwergenwein (dieses mystische Spaßwässerchen, um das kundige Waldbesucher mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht respektvoll herumschleichen). Vorgestern brachte mich ein weiterer Glücksbringer auf Trab im wahrsten Wortsinne, wollte ich doch faul wie eh und je mein Radl besteigen, um wie gewohnt einen kurzen Besorgungsweg noch kürzer zu gestalten, doch wurde im Schwung ausgebremst, da eben jenes sich mir über und über dekoriert mit Krähenhaufen präsentierte. Wenn der Glücksexperte es jetzt den Vögeln gleichtun und lauthals klugscheißen möchte, es handele sich in Wahrheit beim Vogelschiss nur dann um einen Glücksbringer, wenn dieser sich am Körper oder am besten auf dem Kopf ereignet – gemach: Im Sommer hat ein süßer Piepmatz das Kunststück vollbracht, im Flug ein Geschoss abzuwerfen, welches pfeilgrad vom Himmel exakt in den Spalt zwischen mein Gesicht und Brille fiel, um erst sanft meine Nase zu streicheln und sich anschließend zu einem ordentlichen Häuflein auf mein frischpoliertes Hosenbein zu falten ... Schätze, ich hab Guthaben auf dem Glücks- und Karmakonto. O sorry, ich muss Schluss machen. Es klingelt – und dann hab ich keine Hand mehr frei.

Freitag, 26. August 2022

Ich packe meinen Koffer

 Ich packe meinen Koffer und nehme mit: eine Decke. Ich packe meinen Koffer und nehme mit: eine Decke und Wasser. Ich packe meinen Koffer und nehme mit: eine Decke, Wasser und ein Buch … Okay, ihr kennt das Spiel. Und werdet darum bestimmt gut verstehen, warum ich in einem etwas überraschenden Anfall von Trennungsschmerz eigentlich aufgeregt auf der Straße hinter dem Sommer herrenne und rufe „Halt halt halt, Moment! Schau dass du zurückkommst, du Bazi du, wir sind doch noch gar nicht fertig miteinander!“ und zum Beweis schwenke ich einen schiffscontaintergroßen Koffer hoch über meinem Kopf. Der Container ist eigentlich meine Schwimmbadetagamseetasche, und die ich hab ich in den vergangenen Monaten sorgfältig beladen, und optimiert. Und dann sagt der Sommer einfach: Haha, ausg’schmiert! und meint damit nicht, dass du dich endlich nicht mehr mit dem leidigen Thema Sonnencreme beschäftigen musst, sondern eben dass jetzt einmal gut ist. Aus Ende Äpfel! Und dann schaust du traurig auf deinen Badetaschencontainer, trägst ihn in die gute Stube, räumst ihn aus und weg und weißt: Im nächsten Mai, da geht dann alles wieder von vorne los. Erst packst du ein Bündel mit dem nötigsten. Weil du bist sophisticated über jeden Verdacht erhaben, für einen schönen Seetag irgendwas anderes zu brauchen als ein staubwedelgroßes Handtuch, ein kleines Wasserl sowie ein zerfleddertes Taschenbuch. Beim nächsten Mal hast du dann schon die thermobeschichtete Picknickdecke dabei, wegen der Feuchte von unten, ein sehr großes Wasser sowie vereinzelte Exemplare der ZEIT, die sich über das letzte halbe Jahr dank mehrerer Probeabos daheim auf dem „noch zu lesen“-Stapel angehäuft haben. Sodann folgt die Erkenntnis, dass trotz skandinavischer Bräune LSF50 vielleicht doch gut wär, außerdem bitteschön Käsesemmel, Obstaufschnitt sowie mindestens ein Karten- sowie ein Ballspiel, weil wegen falls Langweilig. So liegst du dann und beneidest andere um den gekühlten Picknickkorb, in dem Käsesemmeln frisch bleiben statt davonzulaufen, in dem kleine Frischwasservaporisatoren für die Abkühlung zwischendurch sorgen, Schokokekse wenigstens einen halben Tag überleben und die nunmehr drei Liter Wasser schön kühl. Hast du diese Gepäckerweiterung beim nächsten Seebesuch schwitzend vom Radl gezerrt, erkennst du, dass ALLE anderen und NUR DU nicht mindestens eine aufblasbare Wassersache ihr Eigen nennen und selbstverständlich nur deswegen so viel glücklicher aussehen als du dich fühlst, weil sie auf Pizzaluftmatratzen und Obstschwimmringen im Wasser planschen können und du nicht … So geht es dahin. Bis irgendwann der Tag kommt, an dem du alles, wirklich alles dabei hast, inklusive Hängematte, Wasserschuhen, Sonnensegel und Liegestuhl. Und dann kommt ein Windstoß und statt deiner optimalen Ausrüstung hast du nurmehr braune Blätter um dich herum. 


Freitag, 19. August 2022

Radlfahrer

 In meiner Familie haben Drahtesel und alles, was dazugehört eine lange Tradition. Dass wir als Kinder vergleichsweise oft als „Radlfahrer“ benannt worden sind, hatte zwar vielleicht damals eine den Glauben an unsere Fähigkeiten bestärkende Wirkung, muss aber leider im Nachhinein betrachtet als Irrtum verbucht werden, der auf einer donauäquatorianischen Sprachbarriere beruht: Ein „Radlfahrer“ zu sein klingt zwar wie ein knuffig-freundschaftliches Qualitätsmerkmal, meint aber nichts anderes als einen „Schleimer“, weswegen man sich bei Licht gesehen über diesen Titel vielleicht doch nicht so sehr freuen sollte. Aber auch darüber hinaus zeichnen sich Familienmitglieder mit einer betriebsamen Drahteselei aus. Während Onkels und Tanten wann immer sie Zeit haben Berge hinauf oder Flüsse entlangsausen, hat die Oma uns oft morgens auf dem Boden liegend empfangen, wo sie mit den Füßen in der Luft strampelte. Was es mit diesem „Radlfahren“ auf sich hatte, versteh ich auch im Alter immer besser. Weitere erfahren alles im Umkreis von einer Stunde ganzjährig (außer wenn es regnet, weil „da werd ich nass und das mag ich nicht.“) und jemand ganz bestimmtes behauptet seit Jahr und Tag, es gäbe kein besseres Fortbewegungsmittel als das Klapprad, welches sogar zur Gardaseeumrundung bestens tauge, und mich deswegen vor einigen Jahren zu einem Straßburg-Trip mittels Klapprad und um die Stirn gebundene Taschenlampe zwang.  und wieder andere haben bis heute nicht verwunden, dass von ihrer BMX-Karriere nurmehr überaus unterhaltsame Zeitlupenvideos dramatischer Überwindungen winziger Bodenhindernisse im Reichswald zeugen. Ich selbst habe nach einem kleinen Downhill-Stunt vor einem Jahr und in der Darauffolge mehreren Wochen Atemnot und Brustkorbschmerz der Fahrradakrobatik vorläufig abgeschworen und überlege aber, ob es nicht vielleicht an der Zeit wäre, eine andere radlfahrende Beschäftigung erneut zu etablieren: Pferdchen spielen. Selbstverständlich durfte ich als Kind nicht reiten, weil elitäres Rollenklischee, lieber Skateboard, Latzhose und Wald. Heimlich daheim hab ich mich freilich in Wendy verwandelt und bin auf Penny und Dixie durchs Unterholz im Kinderzimmer gestoben. Oder eben draußen auf ihnen herumgaloppiert. Korrekter Sitz und entsprechende Kommandos – dank unermüdlichen Unterrichts reitender Freundinnen kein Problem, und so bin ich also „Hüa!“, „Brrrr!“ und „Schschhh!“ befehlend durchs Quartier geritten. Dass unter mir kein echtes Pony gemütlich trabte, sondern lediglich ein Drahtesel namens Hercules, focht mich dabei nicht an – warum auch? Sollten die anderen doch schauen, ich konnte wenigstens reiten, und so wehte mir der Wind der Freiheit um die Schnittlauchlocken ... Wenn’s am Wochenende irgendwo wiehert: Keine Sorge, bin nur ich. Das muhen überlass‘ ich den anderen.

Freitag, 12. August 2022

Orientalischer Duftteppich

 Der Haussegen hing schief! Um genau zu sein hing er welk und schrumpelig an der Wand, japsend und verzweifelt um Frischluft gierend. Im Gleichtakt mit dem Haussegen hatte ich abwechselnd aus dem Fenster, vom Balkon und ins Badezimmer geatmet. Ein Raumwechsel gestaltete sich jedoch schwierig, denn sobald ich mich durch die Wohnung bewegte, umhüllte mich eine zentnerschwere Faust und rang mich zu Boden, weswegen ich zuletzt dort verblieben und in die Küche gerobbt war, um dort tiefe Atemzüge aus dem Kühlschrank zu schöpfen. So geht’s. Schuld daran war eine graue Flasche, die der Mann am Morgen schwungvoll aus dem Parfumregal klaubte um ehe ich einschreiten konnte nicht nur sich selbst, sondern die komplette Wohnung sowie alles Leben, was sich darin befand (MICH!) mit zentnerschwerem Nebel zu bestäuben. Auf der Flasche prangte weithin sichtbar das Wort „SPORT“, womit entweder ein Scherz oder maximal etwas wie „Taschenbillard“ gemeint sein kann, oder aber es hat ein Parfumdesigner versucht, den lieblichen Odeur 50 Jahre alter Jungs-Umkleidekabinen herkömmlicher Vereinsheimhallen zu konservieren, alternativ das, was in drei Jahren Unterstufensport in durchschnittlichen Turnbeuteln heranwächst: Käsefuß, Gummibärchen und irgendwas mit Vanilleduftbaum. In diesem Fall müsst ich sagen: meine Hochachtung, es ist gelungen! Auf dieser Wolke betäubender Viskose stob der Mann von dannen und hinterließ mich im lilazähen Dunst, in den sich ein Hauch von Schwefel mischte, denn, tjaha: Es gab Stunk! „Nur weil du“, spie es mir auf meine freundlich handwedelnde Frage (sinngemäß: ob man noch ganz bei Trost sei, dem heißesten, schwülsten Tag des Jahres auch noch mit dem schwülstigsten Parfum zu assistieren) „eine absolute Geruchsstörung hast und völlig überreagierst, muss das noch lange nicht für den Rest der Welt gelten!“ zog der Mann den Trumpf und knallte erst diesen mir vorn Latz und dann mit der Türe, bevor er seinen orientalischen Dufteppich bestieg und auf diesem von dannen ritt. Zurück blieb ich. Verdutzt, atmend und mit einem irritierten Gefühl von Reue. Denn zum Abschied schallte es noch ein „Und außerdem hab ich keinen Bock, ein Parfum für 100 Euro einfach wegzuschmeißen!“ So hab ich das noch nie betrachtet. Und möchte Abbitte leisten: Ihr Tapferen da draußen, ich bitte um Verzeihung! Ihr alle, die ihr Tag für Tag ungeachtet jeden Anstands und Gesellschaftsvertrags die scheußlichsten Parfums auflegt, die Süßkinds Baldini je erfinden könnte, all die Jil Sander SUNs und JOOP! Hommes, all die Gaultier LE MALs – entschuldigt! Ihr könnt jetzt aufhören, eure Konfirmationsgeschenke von 1996 aufzubrauchen, wirklich. Es ist in Ordnung. Niemand wird es euch übelnehmen, packt einfach diese Fläschchen in den Müll und macht die Welt zu einem besseren Ort! Sie wird es euch danken. Ich hab direkt den Anfang gemacht. Gibt dann wieder Stunk. Aber der ist wenigstens nicht lila.

Freitag, 5. August 2022

Der Adana-Vorfall

 Es trug sich zu, dass die Familie grillte – ein Unfall, der sich gelegentlich ereignet und selbstverständlich niemals streitfrei vonstatten geht. Eh klar. So gibt es beispielsweise ein „Knabengrillen“, dessen Ausgestaltung auf der Hand liegt wie auch gleich daneben die Wurst, verzichtet man doch hierbei weitestgehend auf Beilagen jedweder Art, um sich stattdessen am besten einfach im Kreis um den Grill zu rotten, gelegentlich totes Tier darauf zu werfen, dieses abwechselnd mit Bier oder Spiritus zu benetzen, sich johlend über Stichflammen zu amüsieren und dann wie Özi umwegslos von der Feuerstelle zu speisen. Es gibt dann noch das „Grillen à la Mama“, was bedeutet, dass im Vorfeld verkündet wird, wir machen „nichts großes, aber halt ein bisschen einen Salat und vielleicht ein Baguette“, um sich anschließend mit dem Umstand konfrontiert zu sehen, dass „das bisschen Salat“ aus einem in mehrtätiger Arbeit vorbereiteten Großbuffet besteht, flankiert von dreierlei Brot und „nur einer ganz kleinen Beilage, weil ich nur kurz ein Rezept ausprobieren wollte“, weswegen sich nicht nur der Tisch schwer biegt, sondern auch die darumstehenden Stühle, sind doch alle wegen Kulinarikhimmel hurtig bis zum Limit vollgefressen. Gelegentlich gibt es Experimente in allseitigem Einverständnis, und ein solches auch wie folgt. „Wir machen Adana!“, hatte der Spross feierlich verkündet und das mit dem Umstand argumentiert, er trage die im auslandsaufenthaltbedingten Liebesrausch erstandenen Fleischspieße seit Jahren jungfräulich durchs Leben, das müsse sich ändern. Wenn der Nesthaken spricht, fügt man sich. Adana Kebap ist eine türkische Spezialität aus der gleichnamigen Küstenstadt. Als scharfe Variante des „Köfte“ wird Hammelhack um Schwerter gewunden und über Holzkohle gegrillt, dazu reicht der Fachmann gegrilltes Gemüse und gebutterten Reis. So weit, so einfach. Die Zubereitung begann um 15 Uhr. Gegen 18 Uhr erklang aus verschiedenen Ecken des Hauses die sorgsame Stimme eines Erklärvideos, dem sich mehrere Familienmitglieder widmeten, um herauszufinden: Wie krieg ich das Fleisch an den Spieß? In der Küche stand tränenwund der Fachmann und fluchte. Wann immer ein Teil Hack am Spieß angebracht war, fiel woanders eines wieder runter. Die erste Hürde gemeinschaftlich genommen, gab es flugs eine Zweite, schickte sich der Himmel doch an, im Moment der ersten Grillgutauflage erst einen Windstoß und damit kiloweise Fichtennadelgewürz auf die Speise zu wehen und anschließend einen Regenguss. Während die Familie Rosmarinersatz von Paprika und Zucchini pflückte, begann der Hauptverantwortliche mit der Fleischgrillage – und kurz darauf mit großem Geschrei: Was grad noch kompakten Spieß mimikryerte, entfaltete sich hurtig auf dem Rost, fiel kurzerhand hindurch und verbrannte lichterloh. Nur eine geschickte Erste-Hilfe-Maßnahme konnte schlimmeres verhindern, und so wurden später gegrillte und von flinker Frauenhand gedrehte proppere Hackwürste ins Fladenbrot gesteckt. Der Rosmarin hat auch fast gar nicht gestört. Nächstes Mal gibt’s wieder Steak. 

Freitag, 29. Juli 2022

Alles ist Salat

 Wie in jedem Jahr kam auch dieses Mal der Sommer vergleichsweise überraschend. So sehr, dass die meisten von uns noch gar nicht richtig fertig damit waren, sich den Winterspeck anzufressen und dann indigniert zur Kenntnis zu nehmen, dass es mit der Strandfigur jetzt dann doch etwas pressiert. Sogleich geht der Mensch in einen Zustand über, den er für den Rest des Jahres beibehalten wird, zumindest bis zum Oktober, weil da muss man dann schon dringend wieder an den Winterspeck denken. Es wird also Diät gehalten und sich sommerlich-leicht ernährt. Doch es lockt überall die Versuchung: Grilleinladung, Rooftop-Buffet, Gartenparty, es nimmt kein Ende, wir sitzen in der Patsche – doch sind ja freilich schlau. Alle sprechen von Salat. Man habe abends nur einen Salat und mittags nur einen kleinen Salat und zum Frühstück einen leichten Salat gespeist, so klingt’s an jeder Ecke. Jedoch wird der Mensch scheint’s von einem sommerlichen Sprachfehler befallen und verschluckt ganz ungewollt hier und da ein winzigkleines Wortbestandteilchen. Spitzt man die Ohren und fragt noch ein- bis dreimal nach, erfährt man auch schon die Wahrheit. Die nämlich lautet: „Ich koche mir einfach alles was ich will, lass es kalt werden und nenne es dann Salat.“ Das sieht dann so aus: „Ich mach uns später noch einen Salat.“ – „Und was tuste da rein?“ – „Naja, halt getrocknete Tomaten, Oliven, Schinken, Parmesan und ein Pfund Nudeln.“ Oder „Ich glaub ich nehm uns dann morgen nur einen leichten Salat mit.“ – „Aber das fällt doch dann zu einem gatschigen Klumpen zusammen?“ – „Iwo, Reis und Käse und Eier und Mayo und Speck doch nicht, das hält das schon aus.“ Oder „Ich hab mir aus den Resten von gestern noch schnell einen Salat gemacht.“ – „Ach fein, und was gab’s gestern?“ – „Schnitzel.“ Diese Unsitte wird verstärkt von Kulinarikmagazinen jedweder Preisklasse, die von jeder Kasse grindig auf einen herabfeixen und locken. Auf den „kreativen Salatideen“ glänzen die Chicken Wings mit den speckummantelten Datteln um die Wette, paniere und brate ich eine Zucchini und lasse sie auf dem Fettabtropfpapier erkalten, so ist’s ein sommerleichtes Gericht, und jeder noch so unschuldigen Wassermelone muss mindestens ein Pfund fetten Fetas beigemengt werden, sonst ist sie umsonst gestorben. Verzweifelt wiege ich meine zitternde Salatgurke und gelobe feierlich, sie vor jeglicher Zubereitung zu beschützen, um mich dann auf ein kühles Bett Tomaten zu lagern und behutsam mit einem winzigen Blatt Basilikum zuzudecken. Hierbei entdecke ich vom letzten Grillabend vergessene Zucchini. „Prima!“, geistesblitzt es mir sogleich durch den Kopf. „Wenn ich die schön mit Knoblauch rausbrate und dann über Nacht stehen lasse, hab ich morgen gleich einen tollen Salat.“ Ach was soll’s! Man nehme seine Figur und trage sie zum Strand. Diät machen wir wann anders.   

Freitag, 22. Juli 2022

Annalenas neue Tasse

 „Es ist wirklich wahr, der Opa wird heut 80 Jahr!“ Zwischen all den entzückenden Zitaten, Headlines und Bonmots unseres geliebten Heimatblattes fand sich in einer der letzten Ausgaben eine Bildunterschrift, die mich besonders rührte: „OB Marcus König übergibt Außenministerin Tasse mit Nürnberg-Motiven.“ Und nicht nur kann man der ersten Frau im Lande auf dem Foto ansehen, was sie sich denkt, sondern hat diese Szene auch sogleich zahlreiche herzwärmende Gedanken bei mir ausgelöst. Annalena und die Nürnberg-Tasse. Mensch, wird sie sich gedacht haben, endlich hab ich meine eigene Tasse, weil sie ist ja noch nicht so lange in ihrem neuen Büro, und das wird eh vor allem ziemlich schick eingerichtet sein, in edel weißem Design darum auch das Porzellan, aus dem sich zwar vorzüglich der kleine Espresso schlürfen lässt, den es zur Konferenz gibt oder danach oder hinterher oder mehrfach mittendrin in der Nacht. Doch was tut man, wenn es die Welt einmal wieder so richtig rund treibt und alle regen einen bloß auf und heiß ist es sowieso oder vielleicht auch zu kalt – ja, dann schaust du blöd aus deinem porzellanenen Fingerhut, weil da passt halt keine Nudelsuppe rein und keine heiße Schokolade und eine extragroße Portion Eiskaffee erst recht nicht. Doch zum Glück hat Annalena nun endlich eine eigene Tasse. Die wird sie in ihrem Büro im auswärtigen Amt sicher so wie sich das in jeder guten Bürogemeinschaft gehört fern der garstigen Kolleg*innen im höchsteigenen Schreibtischschubladerl einsperren, weil sonst die Lise und die Magda nur wieder ihre Lippenstiftränder dran abschmieren. Und dann immer wenn es eine kleine Pause braucht vom Außenministerinsein, dann denkt sich die Frau Baerbock „zum Glück hab ich da so einen schönen Becher, da sperr ich jetzt direkt einmal die Türe ab und genieße meinen großen kalten Kaba und hab dabei auch noch Nürnberger Motive, weil mei, da war’s eh so schön und die Menschen allesamt so herzig, vielleicht fahr ich da einmal wieder hin.“ Vielleicht hat sie ihre neue Tasse aber auch direkt mir nach Hause genommen und dann ganz nach oben in den Küchenschrank versteckt, damit die Kinder nicht dran rumgrabbeln, man weiß ja wie die sind mit neuen Sachen. Und dann wenn die aus dem Haus sind, also die Kinder, nicht die neuen Sachen, und die Außenministerin hat einmal schön Ruhe und Entspannung, dann sagt sie zum Gatten „Geh du Daniel, holst mir einmal meine schöne Tasse? Nein nicht die mit dem Garfield. Die neue, vom Marcus! Ja, mit c, nicht mit k!“ und dann gibt’s schön „Ruhe & Gelassenheit“-Tee oder vielleicht sogar einmal einen kleinen Tassenkuchen oder, wenn die Annalena einmal Lust hat, sich selbst wieder ganz wie ein Kind zu fühlen, weil das hat man einfach manchmal, da müssen wir uns doch jetzt nichts vormachen, dann macht sie sich in der schönen Nürnberg-Tasse ihren Kaba warm und stippt einen Kanten schönes Graubrot hinein, so wie bei der Oma früher immer. So ist das mit der Tasse. Wahrscheinlich. Vielleicht auch nicht. Vielleicht landet sie auch unter Hammer – mindestens bei der „Auktion der Gastgeschenke an die Bundesregierung“. Wir werden sehen.

Freitag, 15. Juli 2022

Heiße Nächte in Balkonien

 „Man muss die Feste feiern wie sie fallen“, hab ich mir gedacht, und außerdem beschlossen, dass es an der Zeit ist, eine andere Balkonspinnenstrategie anzuwenden und die unliebsame Mitbewohnerin einfach störend und markierend aus ihrem, nein: meinem Revier zu vertreiben. Nach einem unfassbar anstrengenden Tag, den ich erst einmal im Gedenken an die tapferen Radler von Frankreich und direkt in deren Tradition begonnen habe (am heißesten Tag der Welt durch endlos glühende Lava mit dem Drahtesel, am Ende der unglaublich kräftezehrenden fünf Kilometer noch eine Berg-Schikane) und der im weiteren Verlauf nicht minder sportlich vonstatten ging (hinlegen. Sandwich essen. Lesen. Huch, kurz eingenazgat. Zehn olympische Runden Brustschwimmen, erstmal wieder hinlegen. Drei Kilo Wassermelone verspeisen, lesen) und einer deswegen nicht mehr ganz so sportlichen Heimreise („Wenn wir noch langsamer fahren, fall ich um.“ – „Mir doch egal, dann schlaf ich einfach hier im Straßenbegleitgrün.“) sowie einem ausgewogenen, erfrischenden Abendmahl (man nehme am Vormittag kalt gestellten Kaffee, gieße diesen behutsam in ein zuvor randvoll mit zartschmelzendem Bourbon-Vanille-Eis befülltes Glas und garniere dies lückenfüllend mit dem köstlich-chemischen Zart frischster Sprühsahne) befiel mich bei der Einnahme desselben eine grandiose Idee: „Hopp, heut wird auf dem Balkon geschlafen!“ Der nonplusultra Romantik-Tipp, verwuscheltes Haar in verschwitzten Laken, umgeben vom sanften Leuchten unzähliger kleiner Lampions, über dir nichts als der Sternenhimmel und der zarte Wind bringt Duft von Minze und Basilikum auf dem heißen Zirpen der Grillen – perfekt! Nach einer kurzen Einrichtung auf der neulich erwähnten nach dem Lego-Prinzip gestalteten Balkonbank, die dynamisch zum Balkonbett umgebaut werden kann („Und die Matratze?“ – „Ach was, die Yoga-Matten reichen völlig!“) und kurzer Abstimmung („Nimmst du mal bitte gefälligst dein Kissen aus meinem Basilikum?!“ – „Upsi ja. Und kannst du mal die ganzen Lampions ausmachen die sind sauhell!“) konnte auch schon die Nachtruhe beginnen. Eingekeilt zwischen meinem Mitschläfer, der glühend heiß abstrahlenden Hauswand und überbordender Romantik lag ich da und lauschte dem Schweigen der Sommernacht, das nur gelegentlich vom gemächlichen Rumpeln einer Straßenbahn unterbrochen wurde. Sowie siebzehn Feuerwehr- und Krankwagen, einem heftigen Beziehungskrach und mehreren ausgeführten Endstufen, die mich beim Zählen der Sterne empfindlich gestört hätten, hätte ich Probleme im Zahlenraum bis zehn. Gegen Mitternacht bin ich dann ins Bett gegangen – die beste Idee des Abends, empfing mich das Schlafzimmer doch mit angenehmer Kühle, absoluter Stille und Einsamkeit. Der Mann? Hat draußen das Revier markiert. Zumindest akustisch. Mal sehen, was die Spinne dazu sagt. 

Freitag, 8. Juli 2022

Flatscherl auf den Kopf

 Angeblich sollen ja die letzten dereinst noch lebenden Lebewesen auf der dann gänzlich zugrunde gerichteten Erde keine geringere Spezies als die Schaben sein. Ich kann mir das durchaus gut vorstellen, seitdem ich dieser Tage versucht habe, eine goldglänzende Vertreterin in meinem Badezimmer einzufangen und artgerecht zu entsorgen, nämlich selbstverständlich auf eine lustige Flussreise zu schicken. Leider hatte die Schabe keine Lust auf Baden und flitzte wie ein goldener Pfeil kreuz und quer durchs Badezimmer, um sich schließlich unter einer Seifenschale zu verbarrikadieren und von dort aus triumphierend mit den Fühlern zu winken. Sonnenklar: ein Fall für den Kammerjäger-mit-Herz, und der trug das Tierchen begleitet von meinen wohlmeinenden Worten („WEHE DU LÄSST SIE WIEDER EINFACH FALLEN!“) behutsam auf den Balkon, um sie von dort aus in Freiheit zu entlassen. Die Seifenschale liegt jetzt unten vor dem Haus, die Schabe darf darin meinetwegen gerne glücklich werden. Wir leben hier nämlich in großem Einklang mit der Natur. Eine Oase inmitten des innerstädtischen Asphalts, wo Fauna und Flora gedeihen und sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Ok, das nicht grade. Aber Krähen sagen sich guten Morgen. Sie sagen auch guten Mittag und guten Abend, zwischendurch auch guten Feierabend, guten Nachmittag oder schlichtweg MAHLZEIT, je nachdem, wonach ihnen grad der Sinn steht. Das ist ein relativer Nachteil der Krähe gegenüber beispielsweise einem Hahn, der morgens einmal laut und ehrlich alle in den Wahnsinn schreit, um sodann zu verstummen und den Rest des Tages nurmehr zu picken und zu begatten. Sehr rural eben. Unsere Krähen hier sind jedoch sehr urban, sprich 24/7 hochaktiv, und deswegen können sie sehr gut gleichzeitig krakeelen, Nahrung vertilgen, selbige wieder ausscheiden sowie – das stimmt mich froh – Unmengen Nester bauen. Das alles direkt hoch oben in der Baumkrone direkt über dem Hauseingang, weswegen der Boden vor der Türe übersät ist mit allerlei Unrat und man gerne mit Regenschirm bewaffnet das Haus verlassen möchte. Hat man keinen Schutz dabei und großes Pech, tut’s manchmal so Flatscherl auf dem Kopf und dann weißt du nicht: Hat dich ein Zweiglein getroffen oder doch endlich Defäkat? Letzteres brächte immerhin Glück. Und ich brächte ohne die Gefahr vielleicht noch öfter den Bio-Müll hinaus, denn dieser ist derzeit Zuchtstation für die wahren Überlebenden aller extra- sowie intraterrestrischen Gefahrenszenarien. Wenn die Welt einmal untergegangen sein wird, werden die Fruchtfliegen herrschen. Hierauf bereiten sie sich in meiner Küche vor und verwandeln frisch gekauftes Obst in fliegende Punkte sowie zehn Sekunden alte Bananenschalen in sirrende Infernos. Und während die angebliche Geheimwaffe „Essigmischung“ sie köstlich amüsiert, lebe ich seit Wochen in Flachatmung bloß nicht durch die Nase! Toll, dieses „Natur“! Lieber die Krähe auf dem Dach als die Schabe in der Hand.

Freitag, 1. Juli 2022

Koriander-Lakritz und Gelbwurst-Mango

 Ein unbedeutendes bayerisches Druckerzeugnis, das uns seit langer Zeit mit heiteren Diagrammen der sogenannten „gefühlten Wahrheit“ erfreut, schmiss vor einigen Jahren das wunderschöne Schaubild „vier Geschmacksrichtungen, mit denen uns kreative Innenstadt-Eisdielen diesen Sommer noch überraschen können“ auf die Bildschirme. Darauf zu sehen war eine feine Eistüte mit vier Kugeln kühler Schleckerei, bei deren Anblick es einem sogleich das Hirn schockfrostete, den Magen verschloss und die Zunge an den Gaumen tackerte: Koriander-Lakritz, Salz, Zimt-Garnele und mein persönlicher Favorit Gelbwurst-Mango. Dieses Schaubild muss sehr, sehr alt sein oder Beweis dafür, dass der Münchner halt nicht so oft hinauffährt in den schönen Norden, um dort einmal an der Zündschnur des Geschehens zu lecken, denn schließlich sind wir hier aufgrund ein bis drei findiger Gelateure so einiges gewohnt und warten seit der Präsentation des Schäufele-Eis entspannt zurückgelehnt auf die Sorten SechsaufKraut-Erdbeer mit aufgeschlagenem Senf, Sülze-Vanille mit Zwiebel-Topping oder Stadtwurst mit Muskat (vegan). Noch lacht ihr beschämt und verzieht angeekelt das Gesicht, meine Lieben, doch ihr werdet schon sehen! Wenngleich ich selbst ein bisschen stutzig werde ob der möglichen Grenzen des Pioniergeistes, da es mindestens zwei Sorten Leckgenuss gibt, die ich im Repertoire sehnlichst vermisse: Glühwein-Spekulatius und Lebkuchen-Zartbitter – Entschuldigung, aber wie naheliegend können denn Eissorten bitteschön sein? Wintergenuss im Sommer, der Hauptmarkt glühende Lava, kein Windchen zupft an der Frisur, aber wir können die Augen schließen, an unserer Glühwein-Waffel nuckeln und dazu dem Klang des Männleinlaufens lauschen. Wenn ich Tourist wäre, ich würd’s sofort machen. Und Lebkuchen-Eis, also erlaube mal! Nirgendwo auf der Welt bietet sich die Gelegenheit zu so einem weihnachtlich-sinnlichen Gesamterlebnis als hier mittendrin bei uns! Geruchskino in der Entwicklung noch nicht ganz ausgereift? Dass ich nicht lach, wir können seit dutzenden von Jahren machen, dass eine ganze Stadt im höchsten Hochsommer nach Zimt, Nelken und erfrorenen Füßen riecht dank der nimmermüden Elisenproduktionen, die wie ein Ring of Fire die Stadt umgeben, so dass egal woher der Wind kommt stets ein Hauch von Lebkuchen die sommerheißen, hundsbetagten Straßen durchweht. Auf der Zunge Lebkuchen, in der Nase auch und obendrauf Lichtschutzfaktor 60 – ich wär sofort dabei. Aber die Herrschaften an der Eismaschine haben ja offenbar anderes zu tun: Vorgestern sind mir doch tatsächlich in so einer Diele kurz die Augen rausgefallen – „Ähm sorry, aber Meerrettich-Schnittlauch, was hab ich mir denn bitte darunter vorzustellen?“ Doch bevor ich mich wehren konnte und empören, ob der Gelateur einen an der Waffel hatte, hatte ich eine grüne Kugel in der selben. Und ich muss sagen: Es war köstlich. Gelbwurst-Mango? Ich bin dabei! 

Freitag, 24. Juni 2022

Kammerjäger

Ich habe einen tollen Balkon, zumindest wenn man von vorne auf unsere Häuserfront zufährt. Im Gesamtvergleich von dürren verzünslerten Buchsbäumchen, müde im Wind wehenden Fußballflaggen und überquellend ausgebleichten Plastikbouquets strahlt der meinige als einer der wenigen Balkone mit Herz dem geneigten Passanten entgegen. Bunte Lampions zeugen von meinem kindlichen Wesen, eine knallgelbe Markise von meinem sonnigen Gemüt (und schattigen Körper). Zu mannshohen Gebüschen gewucherte Basilikumsträucher künden von meinem grünen Daumen sowie der Sucht nach Tomate-Mozzarella-Basilikum-Knoblauch-Gerichten (vulgo: Tommi-Mozzi) von O bis O. Zu den nützlichen Dingen gesellen sich schöne wie ein alter Fensterrahmen, der seinerseits allerlei Gewächse beherbergt, sowie ein schwarzglänzender Grill, der noch dazu kommunizieren kann, gemahnt er doch an seine längst überfällige Nutzung, indem er gelegentlich mit Schwung in meine Hüfte beißt. Eine strahlende Galerie aus rot-pink-neon umrahmt mein kleines Stück Urlaub, wo die Blüten sprießen und in herrlichem Kontrast stehen zu Gegenüberbeton und Himmelssmog. Letzteren kann ich seit vergangenem Jahr besonders gut betrachten, nämlich seitdem ich im Schweiße meines Angesichts (und womöglich auch des einer weiteren Person) mir meine höchsteigene, achtteilige, multifunktionale Balkonbank habe bauen wollen und nach anfänglichen Versuchen dann habe bauen lassen, denn es hatte sich herausgestellt, dass zwanzig mal drei Meter Holz vergleichsweise überraschend viel sind und noch viel mehr, wenn diese in circa 40 Zentimeter lange Klötze zu schneiden und anschließend zu schleifen und weiterzuverarbeiten sind. Jetzt aber kann ich dort sitzen, fläzen, liegen und mich freuen: Die Blumen leuchten, die Lampions schaukeln sanft im gelben Schatten, es duftet nach Kräutern. Konnte. Ich konnte mich freuen. Seit einer Woche ereignete sich ein Vorfall, der es mir unmöglich macht, den Balkon zu betreten. Vergnügt summend wollte ich ein wenig Gärtnern, hob Samen, Erde, Töpflein hervor und erlitt einen Herzinfarkt. Nämlich saß eine gigantische Spinne inmitten eines gigantischen Nestes an der Unterseite eines Gefäßes, blickte mich achtfach drohend an und sprach „Wenn du es wagst, meiner Brut etwas zuleide zu tun, fresse ich dich auf!“ Ich gehorchte mit einem lauten Schrei und floh türenschlagend unters Kanapee, wo ich bang verharrte, bis der Kammerjäger nach Hause kam. „KÄRCHER!“, schrie ich. „FLAMMENWERFER! NATRONBOMBE!“ Und er, salbungsvoll: „Ja, oder ich nehm sie halt einfach und trag sie runter, hm?“ Was soll ich sagen? Er nahm sie, trug sie – und ließ sie fallen. „Ähm also ich weiß jetzt nicht genau ob sie runtergefallen ist oder sich irgendwo hier versteckt hat“, sprach der Held. Die Balkontür ist seitdem fest verschlossen, Blumen verdörren, ich bin hilflos. Bitte rettet mich!

Freitag, 17. Juni 2022

Rollbraten-Model

 Gestern war ich BH kaufen. Tsetse, über sowas spricht man doch nicht? Aber freilich doch sehr wohl, denn die nachfolgenden Ereignisse gehen uns alle an, und außerdem haben wir hier doch eh neuerdings so viel Liebe, Sex & Zärtlichkeit, dass ich mich frage, wann unsere schöne Zeitung wohl in BRAVO umbenannt wird, meinethalben auch das fränkische Äquivalent: BASSD SCHO. In der heutigen Ausgabe unserer beliebten BASSD SCHO möchte ich meine jüngsten Erkenntnisse mit euch teilen, nämlich dass ich seit gestern weiß, wieso Menschen, deren einziger Lebensverdienst es ist, auszusehen, und die dafür im Gegensatz zu mir gut bezahlt werden, genau so genannt werden wie eine „Hohlform zum Formen z. B. von Ton, Gips, Wachs oder Gebäck“. Nämlich: Model. Das sind diese Holzformen, in die man einen Klumpen Lehm hineindrückt oder Salzteig und wieder heraus holt man kunstvolle Fliesen oder filigrane Szenerien mit Alpenblick und Schnörkseln. Im Moment des Erkenntnisgewinns stand ich vor einem Spiegel in einer mitteloptimal ausgeleuchteten Umkleidekabine, blickte mein Gegenüber an und musste spontan ein Geräusch von mir geben, dass irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen lag. Weil im Gegensatz zu unserem hölzernen Model oben verhält es sich beim durchschnittsmenschlichen so, dass man keinen Teig hineindrückt, sondern man selbst der Teig ist, der in etwas hineingepresst wird und im besten oder dann eher schlechtesten Fall diese Form beibehält. So wie ich, die ich mich fragen musste: Werde ich jemals wieder nicht mehr aussehen wie ein Rollbraten? Schuld daran war eine wirklich sehr hilfsbereite junge Dame im Miederwarenfachgeschäft. Weil man ja, hat sie mir erklärt, beim bügellosen Brustgeschirr irgendwo anders einen Halt herbekommen müsse, damit der Vorbau nicht auf lustige Wanderschaft geht und dann anderen Passanten entweder unterm Leibchen durch oder oben aus dem T-Shirt-Kragen heraus gut gelaunt zuwinkt, also deswegen müsse alles andere dann schon eher recht straff sitzen. Hat sie gesagt und mir zum Beweis („Ich darf doch mal eben …“) die Träger um 17 Zentimeter enger gestellt, woraufhin ich mich sogleich einerseits wie eine französische Hofdame des Rokoko fühlte und meine Oberweite so eng am Kinn wie ich selbst der Ohnmacht nahe war, andererseits wie Jesus, nur dass ich nicht Brot vermehrt habe sondern vielmehr Brüste: vorne vier, hinten acht. „Ich bin mir nicht sicher, ob das so gehört“, hab ich aus der Spitze rausgepresst und mich dabei auf Bauchatmung konzentriert. „Doch doch, das ist jetzt nur ungewohnt am Anfang, und dafür haben Sie dann ein irre tolles Freiheitsgefühl“, sprach das junge Ding während in meinem Kopf die Ärzte das Lied von Gwendolyn sangen … Sagen wir mal so: Ich glaub, ich lass das mit der Model-Karriere. Auch wenn’s mir wirklich schwer fällt. 

Freitag, 10. Juni 2022

YPS-Krebse

Every Generation got its own disease – and I got mine! Jede Generation hat diese eine Erfahrung gemacht, die sie bis ins Mark erschüttert und fortan nicht nur als emotionale Kerbe begleitet, sondern auch verbindet. Ein geheimes Zeichen, ein winziges Wort kann ausreichen, um alles wieder hervorzuholen, Bilder, Gerüche, Gefühle zu schaffen und zu signalisieren: Hey, ich hab das selbe mitgemacht wie du, ich trage die gleichen Wunden, wir kommen aus dem selben Stall. Das ist für Herdentiere wie den Menschen eine existenzielle Erfahrung, die sich aus den unterschiedlichsten historischen Ereignissen speisen kann. Für mich und meine Generation ist das: Das Yps-Heft mit den Urzeitkrebsen. Sofort und auch akkurat jetzt in der Sekunde sehe ich mein Kinderzimmer vor mir, rieche die wohlig-schauerige Mischung aus meterdickem Staub, Impulse Vanilla und vergessenen Socken. Ich kann blind aufzeichnen, an welcher Stelle der mit Medizini-Postern und Bravo-Starschnitten tapezierten Wand ein Affenbaby, wo Mehmet Scholl hing und wo Take That, ich sehe Türme mit CDs neben liebevoll bemalten Mixtapes und weiß sofort wieder, wieso Mäuse in Terrarien zu halten einfach keine gute Idee ist. Mittendrin: ein Glas Wasser mit einer trüben Flüssigkeit, die, wenn man genau hinschaut, zappelt. ALLE hatten sie, ALLE haben sie geliebt, bei ALLEN sind sie gestorben. Und niemand hat sie jemals auch nur annähernd verstanden. Ich meine: Hey, du reißt ein winziges Tütchen auf und streust Staubflocken in Wasser, von denen du weißt, die sind so alt wie DINOSAURIER! und dann plötzlich haben die Flocken BEINE und BEWEGEN sich?! In meiner ganz eigenen Nostalgie habe ich seitdem mehrfach versucht, die Ypskrebse nachzuzüchten. Doch was ich auch tue, es will mir nicht gelingen. Mit Leinsamen habe ich urwäldliche Flachsplantagen im Spülbeckenabguss angesät und Orangen zu flauschigen Feldern kuschligen Schimmels dressiert, ich habe Leben im Tropfbecken der Kaffeemaschine erschaffen und ja, es gelingt mir, toten Avokadokernen frischen Atem einzuhauchen, doch das urgöttliche kreationistische Allmachtsgefühl, aus Staub Leben geschaffen zu haben, blieb bislang aus – bis zu diesem einen Tag, an dem ich es garantiert geschafft hätte, tote Materie zu einem Dasein mit Willen und Füßen zu inspirieren. Doch leider kam es anders. Nämlich in meiner Abwesenheit der Mann nach Hause. „Du!“, rief es mir auf der Türschwelle zu, „ich hab mal den Tropffang hinten im Kühlschrank saubergemacht. Unglaublich, was da alles rauskam, das willst du nicht wissen! Wie lang hast du das denn nicht mehr geputzt??“ Tja. Was willst du machen. So muss sich Beuys gefühlt haben, als die Genossinnen die Badewanne schrubbten. Bleibt mir wohl nur die Erinnerung. Oder Ebay. Hier werden die Urzeitkrebse noch verkauft – sogar in der XXL-Variante! Wer möchte?

 

Freitag, 27. Mai 2022

Unkraut vergeht nicht

Letzte Woche war bei uns im Hof mal wieder so eine Gartenpflegesituation. Ich möchte hierbei explizit von einer „Situation“ sprechen, um die Dramatik des Einsatzes zu betonen, der sich in regelmäßiger Unregelmäßigkeit ereignet und mich aufs Empfindlichste belästigt. Weil olfaktorisch (Benzinqualm), auditiv (RRRRÄÄÄÄMDÄDÄDÄÄDÄDRÄÄÄÄMÄÄMMM!!) als auch emotional. „Ja hä, aber die räumen doch voll schön auf und dann voll schön Ordnung und so?“ mag ein Einwand sein, den ich entschieden ablehne, da es sich im Ergebnis wenn schon um Ordnung dann um eine handelt, die den Einrichtungsvorschlägen rot-gelb-belogoter Möbelhäuser frappierend ähnelt: sauber, steril, symmetrisch und in seiner verzweifelt bunt betupften Behighlightung seelenlos. Also Gartenpflegesituation, und da musst du hilflos zuschauen, wie ein Mensch ohne Herz wilde Rosen kappt und sprießende Wildblumen rasiert, goldgelbe Felder umpflügt und Kräuterbüsche ausreißt, um hernach eine akkurat gestutzte, doch verwundete Fläche zu hinterlassen, auf der man das Gras nicht wachsen, wohl aber weinen hört. Ich kann mich damit gut identifizieren da ich der Meinung bin, auch Pflanzen verfügen über Charaktere, denen der Phänotyp lediglich Ausdruck verleiht. Rose (hinterfotzig): „Ja ich bin total schön und dufte, jeder liebt mich, aber kommst du mir zu nah, zerstech ich dir die Augen!“ Klatschmohn (beleidigt): „Upsiwupsi, das hast du dir so gedacht dass ich in der Vase hübsch wäre aber BÄM nicht mit mir, ich lass einfach alle Blätter fallen ÄTSCH!“ Gänseblümchen (devot): „Nee du is voll okee dass du mich dauernd zerlatschst, macht mir voll gar nichts aus, schau wir sind eh so viele und huch jetzt hast du mich jemand versehentlich ausgerissen das ist vielleicht ein bisschen AUI nicht die Haare menno …“ Oder Brennnessel (verschlagen): „Komm nur her du Wicht, trau dich ruhig, komm komm dir zeig ich’s, wag dich nur noch einen Schritt vor und dann PENG sprüh ich meine Geheimwaffe auf dich und du wirst LEIDEN, muahhahaa!“ Und dann gibt es: Löwenzahn. Jeder (gute) Mensch liebt Löwenzahn, obwohl der eigentlich nichts dafür tut. Löwenzahn ist so „Hey yo, du auch hier? Cool ich auch, ich hoff ich stör nicht, meld dich einfach, ich kann easy auch noch ein bisschen rutschen und mach’s uns schön bunt. Sag halt Bescheid worauf du Bock hast, Bro! Oha jetzt hast du versehentlich Zement / Teer / ein Haus auf mich geschüttet, fuck ey tut mir leid für dich das kann echt mal passieren mach dir keinen Kopf, ich krieg das schon wieder hin …“ Und dann stemmt sich der kleine Löwenzahn mit aller Kraft gegen die Welt einfach so und drückt ganz fest und feste und dann PLOPP! wo grad noch graubraunes Ödland war schießt ein gelber Kopf hervor und noch dreiachtsiebzehn mehr! Ist das nicht wunderbar? Schöne Grüße an den Gartenpfleger: Es sieht schon wieder genau so schön aus wie vorher. Opa hatte recht: Unkraut vergeht nicht! Ätsch!

So geht Festival

Für alle Menschen, die tatsächlich noch nie auf einem Festival waren, erfolgt hier noch einmal aus gegebenem Anlass ein vorausschauender Rückblick der besucherdurchschnittlichen Geschehnisse auf Basis langjähriger und vielfältiger Erzählungen, um sie entweder darin zu bestätigen, dem Event weiterhin fernzubleiben, oder höchst motiviert noch eilig sich nach Tickets umzutun ... Tag 1: Motivation so mittel; tiefsitzende Erinnerung an vorausgegangenes Leid, unvorstellbare Erschöpfungszustände, schlimmen Ekel; in weiser Voraussicht Präparation zur Schadensbegrenzung; Großeinkauf: isotonische Getränke, Obst, Gemüse, Alka Selzer, Desinfektionsspray, Regenschutz, Sonnenschutz, diverses Leichtgepäck; Vorkochen von nahrhaften, vitamin- und mineralstoffhaltigen Speisen zur täglichen Wiederbelebung; Gummistiefel polieren; Kleidung raussuchen, die gleichsam festival-leger doch auch distinguiert wirkt, um sich vom campierenden Pöbel abzuheben; Bargeldabhebung von höchsten 20 Euro tätigen wegen FSK; 16 Uhr: entspannte Busanreise; spontaner Ekel wegen Mitfahrern, die sicher nicht die erste Bierdose schwenken; 16.22: Ankunft; spontaner Neid auf alkoholische Getränke jedweder Art; Aufsuchen des nächstbesten Kiosk in Treffpunktnähe; Treffzeit auf eine Stunde ausweiten wegen Kioskbier lecker und zudem günstig, außerdem sehr viel „Hallo“; 18.07: Einmarsch aufs Gelände in ausgesprochen fröhlichem Zustand; juhu endlich Festival! 20.39: zwei Konzerte verpassen wegen Anstehen am Geldautomaten; egal, alle sind meine Freunde; 22.13: Tanzanstehen am Dixie; welche Konzerte?! 00.27: spontanes Chorsingen im Nachtbus; 01.15: Verzehr des Gesamtlebensmittelvorrats fürs Wochenende. Tag 2: alles sehr schwierig, aber was muss, das muss; Rucksäcke ausräumen oder gleich daheim lassen, kein Mensch braucht Regenschutz oder Desinfektionsmittel, leger schlägt distinguiert, Campingpöbel ist eh viel geiler, wo ist eigentlich die Pippi-Langstrumpf-Perücke vom letzten Fasching, wenn man den Schnaps mit Kaffee mischt geht’s eigentlich; 13.00: sofortige Wiederaufwärmung des Vortagsrauschs; 13.14: Vertiefung desselbigen wegen das hält doch sonst kein Mensch aus; 13.15: Wiederholung des Vorabends, Gepäckerweiterung um aufblasbare Maßkrüge, Sternchensonnenbrillen, Whiskeyturnbeutel, Hennatattoos etc.pp. unbekannten Ursprungs; Sparkonto räumen; Fotosession mit Polizeistaffel wegen gute Laune; Ankunft daheim irgendwann, sofortiger Tiefschlaf auf der Türschwelle. Tag 3, 11.00: Welthass, Selbstekel; 14.30: Welthass, Selbstekel; 17.00: Beginn der Restaurierungsmaßnahmen; Kleidung möglichst distinguiert wegen Abhebung vom Campingpöbel; offensichtlich am Vorabend um 100€ bestohlen worden, alles scheiße; 19.00: Ankunft, Ekel, Widerwillen; 19.07: Longdrink oder heim? Longdrink! 19.15: Londrink! 20.03: blöde Frage! 20.47: Warum zur Hölle bin ich erst so spät gekommen? 22.21: Juhu Riesenrad, Liebestaumel, scheißdrauf, nureinmaljung; 00.40: Cuba-Bestellung beim Busfahrer. Unmut serviert bekommen. Ihn trotzdem lieben …

 

 

Freitag, 20. Mai 2022

Vertretung gesucht

In einem ersprießlichen Gespräch mit einem der vielen gütigen Kollegen, die hier Woche für Woche erst dafür zuständig sind, mich mit Deadlines zu Höchstleistungen zu peitschen um dann anschließend an eben jenen zu verzweifeln, behandelten wir unlängst im launigen Diskurs das Themenfeld „Urlaubsvertretung“, denn ich sag einmal so: Selbst die lässigste aus dem Ärmel geschüttelte Glosse tät ganz prinzipiell auch einmal gern einfach so auf einem Sonnenstuhl herumliegen und nicht nur äußerlich einen mordsentspannten Eindruck machen, sondern auch innerlich wirklich und echt wahr einfach einmal nichts zu tun, zumal wenn’s außenrum gewaltig sommert. Einmal nichts zu denken – für manche friedlicher Normalzustand, für mich jedoch das leere Hirn ein unerreichter Sehnsuchtsort, an den ich zu gern einmal verreisen würde, ohne dass ich mich zuvor auf einen höchst anstrengenden Weg der Meditation und Erforschung der inneren Ruhe begeben muss. Auf meinen leichthin geäußerten Gedanken also zuckte das Gesprächsgegenüber empfindlich zusammen und schrie „WASI!“, schrie es, „das kannst du knicken. Urlaubsvertretung! Es gibt auf der ganzen Welt niemanden, der so schreibt wie du, also vergiss es!“ Ich versuchte mich in Protest: „Aber …“ – „NICHTS ABER!“, schrie’s zurück, und mein feiner Schnittlauchpony türmte sich im Gegenwind zur ondulierten Tolle auf. „Wenn du jemanden findest, der dich vertritt und ich’s nicht merk, dann geb ich einen aus! Und soll ich dir was sagen? Das wird ein billiger Abend – für mich! Und jetzt geh denken!“ Jetzt muss ich sagen: Ich bin von Haus aus eher ökonomisch veranlagt. Der Unwissende mag das mit Faulheit verwechseln, doch der Erleuchtete weiß es besser. Mit minimalem Aufwand das maximale Ergebnis erzielen – auf diese Weise bin ich schon eher versehentlich zu Latinum und Abitur gekommen – kann nicht anders als als außerordentlich strebsam und klug beurteilt werden. Gelegentlich jedoch packt mich ein großer Ehrgeiz nah am Furor und ein „Dir werd ich’s schon zeigen!“ So auch jetzt. Meine Lieben – ein Wettbewerb! Es ist ganz einfach: Sucht euch ein beliebiges Thema, saisonal, biographisch oder völlig erfunden. Formuliert lose einen Gedanken. Blast diesen bis zur Unkenntlichkeit auf, bemalt ihn, pudert ihn, behängt ihn mit Lametta, Luftschlangen und Spaghetti. Googelt im Themenfeld, streut wahllos bildungsbürgerliche Sujets ein. Lest Asterix, verwendet lateinische Wendungen nach Gusto (gustum, -o: Geschmack, der), gelegentlich englische because it’s so amazing. Ersetzt möglichst alle Punkte durch Komma, verstrickt euch in Nebensatzstrukturen fünfter Ebene, findet nonchalant wieder heraus, vertraut auf die Verwirrungstaktik. Überrascht mit lyrischen Exzessen und Onomatopoesie. Schreibt, wie ihr sprecht und nicht wie das Amtsblatt. Niemand mag Amtsblätter. Erweitert euren mickrigen Wortschatz von 200 auf 200 Millionen (Anm. d. Red.: von dieser Aussage distanzieren wir uns nachdrücklich). Lügt. Und schickt mir das Ergebnis. Dann wollen wir mal schauen, wer hier einen billigen Abend verbringt und wer nicht. Lustig wird das allemal. Auf geht’s!

Mittwoch, 18. Mai 2022

Freu mich wie Polle!

 Gestern wollt ich einmal mit dem Auto wohin fahren. Mach ich gar nicht so oft – Innenstadt, Fahrradfitness, Chauffeur krank, man kennt das – und darum bin ich immer ein bisschen aufgeregt auf dem Weg zum Abstellplatz. Wird das Auto noch da sein? Hat mich jemand übel eingeparkt? Mir aus Zorn über frevelhafte Glossen die Tür zerkratzt, Lippenstiftbotschaften in Herzform hinterlassen? Man weiß es einfach nicht, und so war ich nicht übel erstaunt, als ich, Jung-Dynamikerin die ich bin, großen Schrittes zum Fahrzeug eilte und dann da einfach gar keins war. Also kein Fahrzeug. Nanu, hab ich mich gewundert, wie kann das sein, neulich erst hab ich es doch noch hier abgestellt vor so ungefähr zwei Wochen oder drei, und plötzlich ist es weg? Stattdessen: Gelbe Dünenlandschaft, soweit das Auge reicht. „Hallo!“, hab ich gerufen, „Hallo Autooo wo bist du??“ und als Antwort hat nur der Tiefbohrhammer von der Lieblingsgroßbaustelle nebenan einmal laut gewiehert und mir dabei zärtlich ein bis drei Ladungen Baustaub in die Nase gewirbelt. Ich ha… haaaa… haaaaTSCHI!! …ab dann schwer genießt. Genossen. Genesen. Also halt das mit dem plötzlichen großen Druck im Kopf wo man nachher immer erst einmal kurz prüfen muss, ob noch beide Augen dort sind, wo sie hingehören, und nicht unversehens vor den Wangen baumeln und dich von dort aus überrascht anschauen. Jedenfalls eine Mordsdruckluftfontäne und siehe da: Hat es nicht plötzlich vor mir im saharagelben Nichts braungolden geglitzert? „Autolein, da bist du ja!“ hab ich mich gefreut und eilig die 17 Tonnen Pollenstaub vom Gefährt gewedelt. Danach war zwar das Auto frei, doch ich dafür in sattes Gelb gewandet: Haare gelb, Arme gelb, Bauch auch und die Wimpern so dick mit Blütenpollen beladen, dass eine jede Hummel sich sogleich arbeitsunfähig gemeldet hätte wegen Burnout. So ist das grade. Legst du ein Handy auf den Cafétisch und schaust kurz einmal nach, ob es dich nach Decaf mit einem Schuss Hafermilch gelüstet oder doch eher Cappu doppio und dazu ein Spaghettieis, musst du das Telefon anschließend, na, exhumieren grad nicht, aber expollieren. Lüftest du daheim die Küche, so hast du zwar keinen Schnitzelgeruch mehr drin, wohl aber genug gelbe Panade auf der Anrichte für die nächste Portion. Stellst du dein Radl ab um nur ganz geschwind einmal im Schuh-Sale nach dem Rechten zu schauen und vergisst, wehe!, das Regenhauberl auf den Sattel zu ziehen, so strampelst du vielleicht noch unbescholten davon, doch beim nächsten Abstieg droht Ungemach: Auf der dunklen Chino prangt nun stolz und lüstern ein heller Sattelfleck, mit du frappierend an das fesche Hinterteil von Hasin oder Reh erinnerst und schlimmstenfalls auch ähnlich lockst … Ach was soll’s. Frühling! Diese zwei magisch grünen Wundertage zwischen Nachfrost und Tropennacht. Genießen wir sie – komme was polle! Äh: wolle! 

Montag, 9. Mai 2022

Regentänze

 Meine süßen Rotznasen, was bin ich froh, dass ich euch nicht persönlich sehen und begrüßen muss! Nicht dass ich euch nicht irre gern persönlich sehen möchte, aber begrüßen? Nein, bitte lieber nicht. Ich bin schon vollauf damit beschäftigt, um nicht zu sagen: überfordert mit meinen alltäglichen Kontakten und dem Begrüßungszeremoniell, dass sich da andauernd in aller Öffentlichkeit abspielt. Früher hast du dich gesehen und dann so „Hey!“ und dann so je nach Kontext Highfive, Bussibussi, Drückerle, Händedruck oder verhaltenes Nicken. Jetzt so: Man sieht sich aus der Ferne, zeitgleich steigt ein erstes leises Gefühl von milder Fläue bis Panik im Bauch auf. Eine Stimme schreit dir im Ohr „Dreh um! Bind dir den Schuh! Verliere etwas! Hab etwas vergessen!“ doch leider kommt sie mit dem Tipp zu spät, du hast bereits gelächelt oder zumindest irgendwo das Gesicht in Erkenntnis aufzucken lassen. Du straffst die Schultern, überwindest die letzten Meter tapfer und dann beginnt der Servus-Dance: eine Abfolge bewährter wie neuer Begrüßungsrituale, eingeleitet von einer angedeuteten Umarmung – nur leider wegen völliger Überforderungen und individueller Präferenzen in völlig unchoreographiert, weswegen die vermeintlich harmlose Begrüßung zu einer Mischung als Wrestling, Capoeira und Schuhplattler gerät. Oder Regentanz, anders kann ich mir die sintflutartigen Sturzbäche nicht erklären, die aus blauem Maihimmel derzeit über uns hereinbrechen als hätt der Niagarafall sich über Nürnberg teleportiert. Nein, es sind nur viele viele Menschen, die den ganzen Tag Begrüßungstänze aufführen und dabei froh sind, im Knäuel aus Ellbogencheck, Bro-Fist, Umarmung und Heel-Drop keine blutigen Nasen davon zu tragen. Früher, als man noch schwer maskiert auf die Straße gehen durfte, war das alles besser. In Sicherheit verborgen unter dickem Atemschutz konnte man anonym und unbehelligt durch die Ladenzeilen streifen und sich darauf verlassen, dass zwar der Aushilfskassier im Stammsupermarkt dich auf zehn Meter Entfernung nur an den Augenschlitzen erkennt, nicht aber die Ex-Chefin, der du dich wohlig schauernd auf 30 Zentimeter nähern und dann im Schutz der Maskerade schwungvoll die Zunge blecken konntest. Heute bist du zurückgeworfen auf dich, deine Reaktionsfähigkeit und soziale Kompetenz, die jedoch ohnehin zur Disposition steht, wenn du dich beispielsweise erst zwei Stunden beim Konzert schwitzend an Fremdkörpern gerieben und später von diesen per Fernfaustschlag verabschiedet hast. Ebenfalls bemerkenswert: Sich erst distanziert begrüßen und nach zwei Stunden Ratsch und Gaudi feste in den Arm nehmen weil omnia vincit amor – und corona vincit amor sowieso. 

Montag, 2. Mai 2022

Der Seeigel im Hals

 Nach dem ganzen Eierspaß, Savoir Vivre und Café Olé der letzten Tage ist es an der Zeit, sich wieder einmal mit ernsten Themen zu beschäftigen. Und wenn ich mich einmal in meinem Freundeskreis und auch in mir selbst drin so umhöre, dann lautet das aktuelle Thema „Krankheiten“, oder um im Duktus der letzten Woche zu bleiben: Malähsö. Von der Malähsö gibt es sympathischere und unsympathischere Varianten. Nämlich die komplizierten und die einfachen Sachverhalte. Zum Beispiel Beinbruch: eine eher einfachere Angelegenheit. Wachst du morgens auf, upsi Bein gebrochen, rufst du den Chef an und sagst „Du Chef, ich hab mir im Schlaf das Bein gebrochen, ich bleib die nächsten sechs Wochen daheim!“ sagt der Chef „Okido!“ und alles ist gut. Vergleichsweise einfach auch: Bindehautentzündung. Menschen schauen dich an, sagen „PFUI DEIFI du ZOMBIE bleib bloß weg von mir!“ und du sagst „Ok.“ und bleibst erst einmal weg, daheim ist auch schön. Sonst halt Sonnenbrille als modisches Statement im Kaffeehaus oder Einwohnermeldeamt, bei letzterem kannst du immer sagen „Also als ich hier angekommen bin war gleißender Sonnenschein auch innen. Entschuldigen Sie, welchen Tag haben wir heute?!“ Schön einfach auch Nagelbettenzündung („AUA AUA eine FEDER hat meinen FINGER berührt ich kann heute NICHTS mehr arbeiten und die kommenden drei Tage auch nicht machst du mir bitte den Fernseher an?“) oder auch spezialeinfach Magen-Darm-Infekt („Die sanitären Anlagen sind in den kommenden 24h besetzt, leg mir bitte ein Kniekissen vor die Türe.“) So, und dann gibt es: Halsweh. Den gordischen Knoten unter den Krankheiten, den Zitronensäurezyklus der Zipperlein, das Buch der sieben Siegel unter den Wehwehchen. Wenn du nicht schon nachts aufgewacht bist und panisch um dich geschlagen hast, weil sich ein Seeigel in deiner Kehle eingenistet hat, kollabierst du spätestens morgens beim Ertasten glühenden Schleifpapiers in deinem Rachen und weißt: Es kann alles sein – oder nichts. Habe ich gestern zu wenig getrunken oder zu heiß gegessen? Habe ich gestern Abend ausnahmsweise mal gesprochen oder gar meinen Ruf als Karaoke-Queen verteidigt – und im Rausch des Erfolgs den Abend einfach vergessen? Leide ich an einer unheilbaren Krankheit, die von mir unbemerkt in den letzten Jahren herangewachsen und gewuchert und über Nacht explodiert ist? Habe ich einfach nur mit offenem Mund geschlafen und jetzt anstelle geschmeidiger Schleimhäute die Wüste Gobi? Muss ich sofort zum Arzt um für die sich über den Tag entwickelnde Mandelentzündung mit Antibiotika gewappnet zu sein oder reicht ein beherzter Schluck Wasser? All das sind Fragen, die ich mir seit nunmehr vier Wochen allmorgendlich stelle. Und irgendwie beschleicht mich das saublöde Gefühl, dass die Antwort darauf ganz einfach lauten könnte: Heuschnupfen. 

Freitag, 22. April 2022

Ecriteuse de la cœur

Bonjour mesdames et missjöhs! C‘est moi, votre ecritöse de la cœur, et je suis gerade eben zurückögökommön von eine grande voyage, die misch ‘at geführt in die ‘auptstadt von Culture, Amour und O lala und dabei so schön ‘at geprickölt in mein Bauchnaböl: Bottrop! Nein Quatsch, Paris natürlich. Die Beauté an der Seine, Sehnsuchtsort aller Liebenden („700 000 Vorhängeschlösser – Paris beendet Liebeswahnsinn“) und Stressort aller Kulturinteressierten (160 Museen + 105 km² Freiluftgalerie), Angststadt aller Sparfüchse („Geheimtipp: Viele Restaurants bieten um die Mittagszeit Tagesmenüs an, die im Vergleich zum Abendpreis wesentlich günstiger sind. Für nur 30 Euro können Sie mittags schlemmen!“) und Selbstverwirklichungsplatz aller Sportskanonen und Wanderfreunde („75 Kilometer in fünf Tagen und täglich 650 Stufen, bist du den Chinamarathon gelaufen oder was?“ – „Nee, nur n büschen Paris angeschaut.“), Verhängnisfalle aller Naschkatzen („Ooooh schau mal eine PRALULINE, das haben wir noch gar nicht probiert?“ – „Wollen wir nicht erstmal die zu 5849302 Kalorien gepressten Butterzuckermehlsahnedinge namens Fland, Croissant, Tarte und Cannéles verdauen, die wir grad eben im Patisseur gegessen haben?“ – „SPIEßER!“) und Grenzerfahrungsort aller Adrenalinjunkies („Falls Sie sich fragen, wie Sie das alltägliche Verkehrschaos am Arc de Triomph mit seinen zwölf Alleen und zehn Spuren bewältigen sollen: Einfach ruhig mittig durch den Kreisverkehr fahren und beten.“) Vor allem aber Selbstverwirklichungsort aller Sprachgenies wie, ohne mich zu sehr loben zu wollen, ich eines bin, habe ich mich doch durch die Weltstadt parliert, dass es meinen Lehrkörpern die Rührung nur so aus den Augen gedrückt hätte – und dass ohne in den letzten 20 Jahren auch nur ein Wort französisch gesprochen zu haben. Aber die tiefe Verbundenheit zu Asterix sowie eine exquisite Pflichtbeschulung („Da nimmst jetzt Latein, danach kannst alle anderen Sprachen auch!“) zählen sich eben aus, und in der sanften Umarmung aller Franzosen, die in völliger Unkenntnis einer anderen Sprache als der eigenen in Tränen der Dankbarkeit ausbrechen, wenn man sie beim Englisch-Sprechen versteht („Ända zere in ze middöll ju cän zee Efföl-Turmö!“) bin ich sprachlich erblüht wie eine Seine-Rose: „Essöquö le rü la a droat sökell mö prönn oh schampseliseh?“ öffnet die Herzen der Pariser, „Schö wudräh demondäh si sött soa ilett ünö possibilty a donseh.“ ihre Augen. „Wulehwuh mö dir kö sett pääh et avec dolif or without?“, „Awehwuh ün Kabel pur sött Ü-Ess-Be-Zeh-Anschluss dö moh portablö?“ und „Öh … dö … troa bagett tradisionöll e nöf … dis … ohs … duhs dö settö pöti kisches!“, und kaum troa werr dö rusch später liegst du dir mit dem Garsong deines Vertrauens in den Armen und sicherst dir Fraterniteh eternell zu! Alla Proschänn! Eure Kulturbotschafterin der Herzen