Freitag, 26. April 2024

Mallediva

Vor ein paar Wochen habe ich eine Freundin, die Anwältin ist, in eine für sie ungewohnte Situation gebracht. Nämlich ins Schwitzen mittels eines peinlichen Verhörs. Seit vielen Jahren ist es ein Running Gag bei uns, dass sie „immer“, wenn ich mich bei ihr melde, auf den Malediven weilt – was so freilich nicht richtig ist, aber dennoch eine Wahl, die ich nicht nachvollziehen kann. „Was MACHST du da zur Hölle vier Wochen lang, da ist doch NICHTS?“ hab ich gesottert und sie spruch: „Ich setze mich, schau stundenlang aufs Meer und freue mich.“ Ich solle das doch mal ausprobieren, die meditative Wirkung sei nicht zu unterschätzen, man sei im Anschluss sehr befreit und gut durchlüftet und überhaupt ganz leicht. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, blickte schweigend auf eine Pfütze am Wegesrand, versuchte vergeblich, eine meditative Wirkung zu erspüren – und buchte eine Reise, die, wie wir wissen, an sowohl Berg als auch Meer führte, wobei seltsamerweise zweiteres bei den Menschen hinlänglich Verzückung auslöst. „Sauge die Wärme, die Sonne, das Licht in dich auf und lass es in dir leuchten“, wünschte man zum Abschied, und: „Höre dem Meer zu, das mache ich am liebsten. Es kommt so sehr rum, das Meer, deshalb erzählt es ja so viel, wenn man ihm zuhört.“ Rumkommen, erzählen, zuhören – das fand ich gut, und so wollte ich folgsam sein und das mal ausprobieren. Ich setzte mich ans Meer, fror jämmerlich und hörte mich im Kältesturm kaum selbst klagen. Ich setzte mich ans Meer, fror weiter und hörte „Heeeeeeyiii Leute, und jetzt noch lecker Sprizzidrinkidrinki??“ Ich setzte mich ans Meer, versuchte, den unglaublichen Angstschweiß, den man bekommt, wenn man zwei Stunden als Beifahrerin dem Schicksal ausgeliefert ist und siebzehntausend Fahrradfahrer auf 50 cm breiten Serpentinenstraßen mit Gegenverkehr überholt, trocknen zu lassen, aß kalte Pommes, denn der Rest war aus, und hörte „Solangde Salz inna Tasche hast, haste Jeld im Haus. Dat hat schon dat Jerti imma jesacht!“ und „Schau mal Mausi, was ich uns noch zum Schnurpseln eingepackt hab!“ Ich setzte mich ans Meer, hörte ein Flugzeug sowie den sicheren Tod drei Meter über mir und lernte, dass auch Wasserlöschflugzeugpiloten den tiefen Anflug erstmal üben müssen. Ich setzte mich ans Meer, vergrub mich statt ins Buch tief in allen Handtüchern und hörte „DANIEL! GABRIEL! HÖRT SOFORT AUF, MIT SAND ZU WERFEN! KOMMT SOFORT ZURÜCK! AUS DEM WASSER, HAB ICH GESAGT! GABRIEL, HÖR AUF DEINEN BRUDER ZU SCHLAGEN! RUNTER VON DEM BAUM, DANIEL! TOUT DE SUITE!“ Dann ging ich auf den Berg. Ich lief und hörte: nichts. Ein bisschen Tschilp, ein bisschen Mäh. Ein bisschen Dingdong, ein bisschen Flatterbrummelsummserum. So leicht, so luftig. So meditativ. Ich spinn? Ist ok. Lieber Mallediva als Malediven. 

Freitag, 19. April 2024

Decidophobie

 Menschen fliegen in den Urlaub. Ich nicht. Das heißt: Ich schon, aber mich findet man hinterher nicht an der Playa del Sol oder auf der Animationsbühne beim launigen Karaoke-Abend, sondern in einer TV-Dokumentation über verwahrloste Hängengebliebene, die in einer Grotte hausen oder solche, die verstört durch die Straßen der Cité wandern und sich allabendlich ihren Unterschlupf aus vergessenen Handtüchern knüpfen. Nicht lustig? Find ich auch. „Wie sehr zur Hölle kann sich ein einzelner Mensch denn bitte anstellen?“ schütteln nicht nur Freunde und Familie den Kopf über mich, sondern ich selbst gleich mit, nachdem ich mir eine psychopathologische Entscheidungsunfähigkeit diagnostiziert habe. Eine glückliche Fügung hat ergeben, dass sich in meinem gefüllten Kalendarium nämlich diese Woche ein Zeitfenster geöffnet hat. Selbstverständlich bin ich sogleich hineingesprungen, weil man muss die Feste feiern, wie sie fallen, und die Urlaubsmöglichkeiten auch. Dummerweise hab ich mich für einen Ort entschieden, an dem die ganze Welt schon mehrfach, ich hingegen noch nie war. Darum hab ich jetzt plötzlich zwei Bedürfnisse: eins zur Er- und eins zur Nachholung, und beide werden nicht besser davon, dass mir Menschen (jeder schon mal dort gewesen!) gutgemeinte Tipps geben und mich mit Ratschlägen überhäufen einschließlich dem ausgesprochen netten Herren in der Reiseführer-Abteilung eines Buchgeschäftes (vielen Dank nochmal). „ICH KANN MICH EINFACH NICHT ENTSCHEIDEN!!“ weine ich seit Tagen in Telefone, Tastaturen und Gesichter hinein und halt mich selbst dabei kaum aus. „Was kann denn daran so schwer sein?“, sagen sie, „willst du Strand, Berge oder Kultur?“ – „ALLES!“, schrei ich und weine weiter. Das vorläufige Ergebnis der Beratungen lautet darum wie folgt: Ich möchte in den Osten, den Norden, den Süden sowie den Westen und dann natürlich auch das Landesinnere der Insel besuchen. Ich möchte weißen Sandstrand sowie wildes Gebirge, um gleichzeitig wandern und aber auch mal die Seele ins Wasser baumeln lassen zu können. Darüber hinaus möchte ich sowohl abends meine Ruhe in Abgeschiedenheit und Isolation, zugleich aber unbedingt auch das quirlige Gewusel der Hauptstadt, um mich aus meinem Infinity-Pool mit Meerblick bei Bedarf ins kulturelle Treiben zu werfen, um mit indigniertem Blick Sauftouristen links liegen zu lassen und stattdessen sophisticated Kultur zu goutieren, was aber natürlich noch viel besser dort geht, wo der Tourist erst gar nicht hinkommt, es dort nur leider weder Meerblick noch „Ich kümmere mich um gar nichts“-Hotels mit Strandfrühstück gibt. Mit 57 geöffneten Tabs von Anbietern habe ich mittlerweile Bad geputzt, die Wohnung sowie den Keller entstaubt und Sperrmüll weggebracht. Wo das hinführt? Keiner weiß. Ich auch nicht.

Freitag, 12. April 2024

Kaffeevollzeitbeschäftigungsautomat

 Manchmal wollen mich Menschen treffen. Dies tun sie auf verschiedene Arten kund, und manchmal muss ich mich zur Räsong und mir in Erinnerung rufen, dass die Art, wie sie das tun, nichts damit zu tun hat, wie gut sie mich kennen oder wie sehr sie mich mögen. Menschen sagen „Später Bierchen?“ oder „Next Mittwoch Chillinger?“ oder „Am Wochenende Ausflug?“ oder „Morgen auch bei der Eröffnung von Dingens?“ Manche sagen aber „Wollen wir uns die Tage mal auf einen Kaffee treffen?“ und dann bin ich oft froh, wenn die Frage schriftlich gestellt worden ist oder wenn überhaupt am Telefon, weil dann sehen die Menschen nicht, wie sich nicht nur mein Gesicht zu einem großen Fragezeichen verzieht, sondern mein ganzer Körper eine Grimasse schneidet. Kaffee. Ist. Mir. Egal. Kaffee ist ein dunkelschwarzes Gebräu, das ich am Morgen mit einem Schuss Milch versehe und dann gegen schlimmen Morgendurst in mich hineinkippe. Ob dieses Gebräu mit Koffein ist oder ohne ist mir egal, ob das Gebräu aus Kaffeebohnen, Röstdinkel oder Berberitzen gebrüht ist, ebenfalls. Entsprechend sind Menschen, die über Crema dozieren und Röstaromen, die Mahlgrade berechnen und Brühtemperatur mir höchst suspekt, und am allersuspektesten sind sie mir, wenn sie plötzlich „Barista“ heißen und Heißgetränke nicht mehr ausschenken können, ohne vorher mit Milchschaum (pfui deifi) stundenlang dadaistische Gemälde turmhoch in Tassen zu kritzeln, so dass man sich mit der Nase durch ein Schaumtier wühlen und anschließend sakrisch den Mund verbrennen muss und dafür hernach fünf Euro zahlen soll, wo es das wesentlich angenehmere Erlebnis doch heut Morgen erst für umgerechnet 53 Pfennig daheim gegeben hat. Also nein, ich möchte mich nicht auf einen Kaffee treffen und dabei von einem ausgefuchsten Betriebswirtschaftler erklärt bekommen, dass das, was ich seit 35 Jahren im Campingurlaub mache, plötzlich nur noch in Kupferkesselchen möglich sein und 17 Euro kosten soll: Heißes Wasser auf Pulver gießen und unten kommt ein Kaffee raus – ein Wunder! Ich hab alles Gerät daheim: French Press (fürs Pulver zwischen den Zähnen), Bialetti (für wenn mal viele Gäste da sind … nicht), Senseo (für weiß ich nicht) sowie die beste aller Filtermaschinen, die so alt ist wie ich und exakt das tut, was ich wünsche. Tat. Denn der Mann hat sich einen Wunsch erfunden und den nun endlich auch erfüllt. Seit kurzem besitzen wir darum keine Küchenarbeitsplatte mehr. Stattdessen einen Vollautomaten, der nicht nur allen Platz, sondern auch meine volle Aufmerksamkeit mehr beansprucht, als es jeder Säugling könnte: Füttere mich! Leere mich! Tränke mich! Reinige mich! schreit er unablässig in mein Tagwerk hinein, doch Hauptsache, der Mann ist selig. Und ich? Hab prophylaktisch Angst vor Fachgesprächen, Ausflügen zu Röstereien und Barista-Seminaren. Da würde ich mich dann gerne treffen. Ihr könnt ja Kaffee trinken.

Freitag, 5. April 2024

Fränkischer Wein

Hosianna, Urbi, Orbi und Allmächt, habemus Schokonest im Garten vergessen!: Ostern ist durchdrungen von allerlei christlich-heiligen Ausrufen. Doch nachdem das Fest der größten Freude nun vorbei ist, können wir uns getrost wieder dem fränkischen Mumpfl-Alltag zuwenden und damit auch den zahlreichen Schönheiten, die er für uns bereithält: Brunzkundl, Rindsbimbl, Gsichtsgrapfm, Zwiderwurzn, Greinmeicherla – nicht nur die Wege des Herrn sind unergründlich, die der fränkischen Schimpfwörter sind es auch, und Zugezogene, Besuchende oder nachlässig sozialisierte Bürgerinnen und Bürger tun sich oftmals schwer, die hinter zugepressten Zähnen hervorgekauten oder aus verkniffen nach unten gezogenen Mundwinkeln gespienen Streicheleinheiten zu verstehen – oder sie gar nachzuformen. So wie mit jeder anderen Fremdsprache auch hilft es ja wenig, zwar die Buchstabenfolge theoretisch mit Sinn befüllt zu wissen, praktisch aber keine Ahnung zu haben, wie die dazugehörigen Laute zustande kommen sollen. Weil selbst für ein dahingeradebrechtes „Schönnösähpa parleh lö frongzäh“ oder „Ei känt not so gut spiehk ze inglisch“ bedarf es wenigstens eines phonetischen Grundverständnisses. Andernfalls kann es passieren, dass du morgen mit zornesrotem Kopf dein impertinentes Gegenüber einmal so richtig bodenständig zurechtweisen willst, dieses jedoch statt vor Furcht zu zucken sich lediglich vor Lachen krümmt. Wie machen wir das jetzt? Ganz einfach: saufen. Wein, bitteschön. Das empfehle ich seit Jahren allen, die die mittelfränkische Sprache lernen wollen. Allem voran steht hier der günstige Nebeneffekt, dass mit jedem feinen Schlückchen eine gewisse Lockerung der Zunge einhergeht, und die brauchen wir nämlichst zur Formung des im Fränkischen unerlässlichen „Prälabialen Waffel-L“s, das wir gemeinsam in einer Aufwärmphase erlernen und mit der Zunge in rascher Abfolge abwechselnd Nasenspitze und seitlichen Amorbogen berühren. Inspirationshilfe: Giraffen beim Fressen beobachten. Um jetzt die lautliche Schönheit des Idioms zu erkunden und später elegant aus dem Effeff an „Brillnschadulln“, „Dischdennisbladdnä“ oder „Rindsbulliong“ zu brillieren, gurgeln wir im Anschluss Rebsorten durch den Mundraum (ggfs. auch außerhalb desselben, s. „L“-Laut). Wichtig ist hierbei, sich möglichst auf südländisches, vorzugsweise italienisches Trinkgut zu fokussieren und ausnahmsweise vom heimischen Erzeugnis Abstand zu nehmen, obgleich ein „Riesling“ für den Anfang schon auch taugt. Gemeinsam rollen, donnern und verschlucken wir uns dann an der unvergleichlichen Ästhetik der Konsonantenfolgen und erlangen so nach kurzer Zeit hervorragende Sprachkompetenz. Und jetzt alle: Mondebuldschano. Binohgridschio. Riodscha. Wallbollidschalla. Brimidifo. Baddolino. Dschiandi … Klappt’s? Dann auf! 

Freitag, 22. März 2024

Frühlingserwachen

 Servus, Grüezi und hallo miteinander, es ist Freitag, der 22. März und wir haben gefälligst überbordend gute Laune, weil obwohl erst seit zwei Tagen offiziell Frühling ist, gab es zwischen Eissturm und Regenguss bestimmt schon, Klimawandel sei Dank, zweimal drei Stunden Frühling, in die wir alles hineinpressen konnten, worauf wir seit Wochen hufescharrend warten: Angrillen, Anradeln, Anwandern, Anzapfen, Ankontemplieren und Ankopul… Naja. Manche von uns haben womöglich auch die Gelegenheit für die schönste aller Frühlingsbeschäftigungen genutzt, nämlich das Anfensterputzen oder Anautowaschanlagenbesuchen und sich hier und da vielleicht über kleine bis mittelgroße, warmbraune Batzerl gewundert, die mal vereinzelt, mal in größerer Häufung auftauchen und sich einer jeden Reinigung aufs Äußerste widersetzen. „Was mag denn das nur sein?“ denkt ihr euch und verliert euch dann sogleich im Anblick der erwachenden Natur, die blüht und ausschlägt und macht und tut, dass es euch im Herzlein juckt und in der Nase auch, haaaaaaaatschiiii!, doch was kümmert uns das, die Welt ist voller Liebe. „O MEIN GOTT schau mal ein MARIENKÄFER!!“ kreischt man glücklich auf und sieht dem Tierchen verzückt dabei zu, wie es müde vom Winter und schwach in den Beinchen vergebens versucht, die zerknitterten Flügel zu spreizen, tänzeln respektvoll um die ersten Ameisenstraße („Wahnsinn, was die tragen können!“) herum, bevor wir ihnen in wenigen Wochen mit Verve und Backpulver den Garaus machen, klauben behutsam niedlich bepelzte Raupen aus der Nachmittagsschorle, tragen Schnecken über die Straße („Ja wo willst du denn hin, du kleine Maus? Na wahrscheinlich in die andere Richtung, dann haste jetzt Pech gehabt.“) und spüren Schmetterlinge im Bauch beim Anblick erster freilebender Artgenossen. Und zu guter Letzt und allervorderst werden wir bewusstlos vor Glück, sobald wir auch nur einer einzigen Biene ersichtig werden. Denn wir wissen: Bienen sind gut. Bienen machen Honig und retten die Welt, sie stechen nicht oder nur wenn man sie sehr ärgert. Und Bienen sind superschlau. Weil die Bienen so superschlau sind, bleiben sie über den Winter ganz artig und eng aneinandergekuschelt in ihrem Nest und warten im Gegensatz zum depperten Menschen, der Schneeschuhwandern geht und friert, dort auf den Frühling. Ist der da und wärmt das Nest, wachen die Bienen auf und begeben sich schnurstracks auf einen „Reinigungsflug“. Und hierzu lesen wir: „Sie koten [im Bienenstock] jedoch nicht ab, da das zum Beispiel die Übertragung von Krankheiten begünstigen würde. So sammelt jede einzelne Biene ihren Kot über die Monate in einer Kotblase, die bis zu 80% des Hinterleibs ausmachen kann. Im Frühjahr verspüren Honigbienen nun das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern, was im Reinigungsflug umgesetzt wird.“ Süß, gell? 

Freitag, 15. März 2024

Apricot Desire

 Was haben weiße Wäsche und ein rotes T-Shirt gemeinsam? Richtig: nichts, und man ist tunlichst darin beraten, dass das auch so bleibt. Bis vor kurzem hätte ich die gleiche Antwort auch auf die Frage „Was haben du und die Farbe Rot gemeinsam?“ gegeben, aber weil Zeiten und Wunder geschehen oder auch irgendein magischer Prozess, den Frauen meiner Sorte zwangsweise durchlaufen und an dessen Ende sie knallfarbene Gewänder, teure Bequemschuhe, flippige Kurzhaarfrisuren und ausgefallenen Signalschmuck tragen, hat sich hier in jüngster Vergangenheit eine Änderung vollzogen. „Es muss mal bisschen Farbe an dich“ hatte ja vergangenen Herbst die Freundin schon gemaßregelt, und der Satz pingpongte im leeren Raum zwischen meinen Ohren hin und her und schwoll bei jedem Aufprall weiter an, bis ich es nicht mehr aushielt und ins Schminkegeschäft lief, wo ich mir unter wie sich dann herausstellte schmeichelhafter Innenbeleuchtung rote Farbe für die Lippen als winziges Zugeständnis zur derzeit favorisierten Natürlichkeit erstand. „Mit dem sauteuren Lippenstift seh ich aus als hätt ich vorhin ordentlich Bolognese gefressen und danach den Waschlappen vergessen“ schrieb ich der Freundin und brauchte ein bisschen, um mich mit dem neuen Jokermund im Spiegel anzufreunden. Rot ist halt auch nicht gleich Rot. „Watermelon Dream“ steht auf dem einen, „Apricot Desire“ auf dem anderen Farbstift, und weil ich selbst eher in Kategorien wie hell-, dunkel- und vielleicht noch knallrot denke, hab ich grad einmal die Farblehre auf- und schnell wieder zugeschlagen, weil dort zu lesen ist, dass es circa 54390 Rots gibt, eins unaussprechlicher als das andere … Animiert vom neuen Gesichtssignal hat jemand anders seine Chance gewittert, meine tiefe Abneigung gegen rote Kleidungsstücke nach über 40 Jahren endlich zu überwinden, und Erbvorschuss in Form von roten teuren Jacken über mich ausgeschüttet wie einst der Wunschbaum Glitzerkleider überm Aschenputtel – nur dass ich kein bisschen am Baum gerüttelt hatte. „Endlich siehst du ein, wie toll Rot zu dir passt, Tochter“, sprach der Baum, stellte sich taub für meine Widerworte und verwandelte mich in eine Christbaumkugel. Derart gebrochen schleppte ich mich also letzte Woche in ein Geschäft und sah mir dabei zu, wie ich ohne Zwang und aus vermeintlich freiem Willen erst ein zartrotweißgestreiftes und schließlich ein weithin leuchtend orangerotes Shirt nicht nur in meinen Besitz überführte, sondern bei nächster Gelegenheit sogar samt Bolognesemund in die Öffentlichkeit trug. Und das Schlimmste: mich dabei pudelwohl fühlte. Bald folgt, ich ahne es, die dicke Holzperlenkette. Und jetzt aber erstmal die Frage: Wie wäscht man rote Kleidung in einem Haushalt voller Weißschwarzgrau? Mit, soviel ist klar, den weißen Sachen lieber nicht.

Freitag, 8. März 2024

Mailbox

 Ich stehe nicht mit supervielen Sachen auf Kriegsfuß. Ok: Parodontoseprophylaxe, unfreundliche Menschen, Steuernachzahlungsanmahnungen – alles nicht schön, aber nichts, was mich wirklich zur weißglühenden Verzweiflung bringt. Ganz anders hingegen meine Mailbox. „Sie haben. Acht. Neue. Nachrichten.“ hat sie mir grade mitgeteilt, und mit Staunen bin ich hinabgestiegen in die Tiefen des digitalen Anrufbeantworters um zu erfahren, wer da eigentlich seit wie lange schon auf einen Rückruf wartet, die Technik aber beschlossen hat, es handele sich nicht um dringliche Angelegenheiten und mich deshalb schlichtweg nicht informiert hat. Irgendwie finde ich das gut: Wenigstens eine, die sich um mein Seelenheil und Stresslevel sorgt, sich denkt „Wenn’s wirklich wichtig war, ruft der Mensch schon nochmal an.“ und basta. Irgendwie aber auch nicht, weil nach vier Wochen löschen sich Nachrichten automatisch, und wenn ich sie nicht zufällig abgehört habe, denkt womöglich irgendwo ein Mensch völlig zu Unrecht, ich würd ihn ignorieren, mich nicht interessieren, nicht lieben – und dass dann vielleicht ein Herzerl bricht, das wär mir ganz und gar nicht recht. Wie’s anders funktionieren kann, hat mir vor ein paar Monaten der Anrufbeantworter meines alten Festnetztelefons gezeigt, das seit Jahren nicht mehr in Benutzung ist und das ich einmal an den Strom steckte, um zu sehen, ob’s denn wohl noch funktionieren würde. Nebst vieler Lichteln blinkte auch das der AB-Station und zeigte rotleuchtend eine Zahl. Nanu, dacht ich, was hat’s denn da noch für alte Nachrichten? Und spielte sie ab. Kurz darauf war ich in Tränen aufgelöst und sicher, dass der AB niemals weggeworfen werden darf, enthält er doch gewissermaßen Botschaften aus einer Zeit, die viel zu lange schon Vergangenheit ist. Jahr für Jahr zum Geburtstag haben meine Großeltern angerufen – auf Festnetz statt dem teuren Handy. Jahr für Jahr haben sie mich darum nicht erreicht, dafür aber unerschütterlich Botschaften hinterlassen, die ich nun eine nach der anderen wiederfand. Stets zu zweit am Telefon formulieren sie ihre Glückwünsche aufs Band, mal singend, mal dichtend. Stets eingeleitet vom liebsten Kosenamen, mit dem der Großvater mich von klein auf zu sich rief und den ich heut noch hören kann als hätt er’s gestern erst gesagt. Und wie mir von Jahr zu Jahr Glück, Gesundheit und Gottes Segen beschieden wird, so werden von Jahr zu Jahr die Stimmen älter. Schwächer. Die Lieder dünner, die Worte undeutlicher, die Hand zittriger. „Keine. Neuen. Nachrichten“, sagt der AB irgendwann, und ich weiß, dass nichts mehr kommen wird, nie mehr. Zum Geburtstag hör ich mir die alten Nachrichten an. Ob Gottes Segen so noch funktioniert, weiß ich nicht. Der der Großeltern tut es allemal. Gelöscht? Wird hier gar nichts.