Freitag, 29. Dezember 2023

Raclette

Hallo … halloooo … ? Hm, keiner da. Ich scheine irgendwo zwischen den Jahren verlorengegangen zu sein, dieser gallertartigen Nährlösung, in der Menschen dem Vernehmen nach zwischen Weihnachten und Silvester vor sich hin wabern und wie eine Kuhherde alles in den letzten Tagen vertilgte emsig wiederkäuen. Dabei sind sie gefangen in der absoluten Gewissheit, rein kalorisch betrachtet für mindestens eine Woche vorgesorgt zu haben, dem festen Entschluss, es bis Silvester mal ein bisschen langsamer angehen zu lassen und diesem kleinen, aber doch fein nagenden Hungergefühl, das ein über Weihnachten auf Medizinballgröße angeschwollener Magen eben aussendet, wenn er zehn Minuten nichts zu tun bekommen hat. Aber zum Glück naht die Party des Jahres und mit ihr die Planung der nächsten großen Fresserei. Und trotz aller kulinarischen Errungenschaften der letzten Jahre, trotz aller Fernsehsendungen, Restauranteröffnungen, Kochbüchern und Bloggern, die uns die ganze weite Welt der Aromen und Geschmäcker nur so in den Schoß wirft, kehrt der seltsame Mensch zielgerichtet stets zum langweiligsten, uninspirierendsten aller Gerichte zurück: Raclette. Bei dem das einzige, was mir einleuchtet, der anachronistische Gefallen daran ist, als Gruppe um die Feuerstelle zu sitzen und direkt von dieser weg Speisen in sich hinein zu schaufeln (vgl. Grillen, das). Ich, wir ahnen’s schon, hab jetzt von Haus aus nicht so viel zu tun mit Raclette. Wahrscheinlich liegt hier bereits die erste Crux: Während ich mich auf dem mit allerlei Schälchen voller Dosenmais, Formschinken und Einweckzwiebeln vollgestellten Tisch orientiere und mich zu erinnern versuche, wie das alles gleich wieder ging, haben die anderen bereits die Pfännchen turmhoch belegt, es irgendwie geschafft, diese Machwerke des Speisen-Jenga in den winzigkleinen Bratspalt zu basteln und sich die ersten Portionen Käsekartoffeln am besten direkt in den Schlund zu gießen. Üblicherweise verhält es sich dann so, dass erste Ausfallerscheinungen („BURPS!“) zu beklagen sind, während ich schüchtern Reste von Pilzen und Paprika ins Pfannerl drapiere und überlege, welche Komposition wohl die am besten verträgliche sein könnte. Am Ende ist niemand wirklich satt, aber allen superschlecht (außer mir), von Esstischlampe und Frisur tropft kondensiertes Käsefett und die Wohnung nebst aller Anwesenden riecht, als wäre man unversehens ins Febreze-Testlabor des TÜV Rheinland geraten. Beim Schweizer Original wird übrigens auf das pseudogesunde Gemüsebrimborium verzichtet und man schmilzt sich einfach im Akkord ein Pfund Käse auf die Rippen … Ob vom Esstisch aufs Sofa oder in die Partynacht: Rutscht gut rüber! Umarmt das neue Jahr und bittet es, die Umarmung zu erwidern. Und habt am Montag einen Miracle Morning: Strong! Healthy! And full of Energy! 

Freitag, 22. Dezember 2023

Zufällig Weihnachten

An Heilig Abend oder in der Weihnacht ereignen sich rund um den Globus die wahnwitzigsten Dinge. Das Vieh im Stall kann plötzlich sprechen, anderes fliegen. Dicke bärtige Männer turnen auf Dächern herum, Rauschgoldengel erscheinen und jungfräulich gezeugte Kindlein werden geboren … Im vergangenen Jahr ist auch mir eine besonders kuriose Geschichte widerfahren, von der ich heute gerne erzählen möchte. Es war Heilig Vormittag, wir saßen auf gepackten Köfferchen, um for Christmas home zu driven, nämlich zu den Schwiegereltern in bayerisch Sibirien. Diesem Besuch war die lange und höchst komplizierte Planung vorausgegangen, die eine Großfamilie mit allerhand Geschwistern, Stief-, Schwipp- und Patchwork-Verästelungen so mit sich bringt, sowie ein am Vorabend erhaltener Anruf des seit langem gebuchten Hotels („Wasserschaden, leider canceln“) nebst großer Hektik. Doch es kam anders. „Der Papa hat Corona, wir lassen das heute lieber“ sprach’s plötzlich aus dem Telefon, und wir ließen unsere Koffer fallen. Nach einigen Schreckminuten sowie solchen der völligen Orientierungslosigkeit überfiel mich ein so maliziöser wie irrsinnig befreiender Gedanke: „Du“, hab ich zum Mann gesagt, „das hat’s noch nie gegeben: Wir müssen nirgendwo hin, wir müssen nichts vorbereiten, wir bekommen keinen Besuch, haben absolut null Plan und dafür maximale Freiheit. Hopp, wir gehen auf den Christkindlesmarkt, da waren wir noch gar nicht!“ Auf ein Tässchen oder zwei – gesagt, getan, und nach Tässchen eins rief ich glücklich den Bruder an, um uns dort als außerplanmäßige Weihnachtsüberraschung zum Essen anzumelden, was dieser erst schüchtern, dann glaubhaft goutierte. Bei Tässchen zwei trafen wir Freunde, die aus unerfindlichen Gründen einen guten Draht zur Feuerzangenbowle pflegten, so dass nach Tässchen vier oder fünf die Laune blendend und das Glück perfekt war, als auch noch das Christkind kam und jetzt ein tolles Foto mit mir hat. Nach Tässchen dings nebst heißem Slivovitz herrschte Einigkeit darüber, dass ein reinigendes Zwischenbier in der Nebenangastronomie eine ausgezeichnete Idee und es sowieso viel praktischer sei, direkt von der Stadt zum Bruder zu reisen anstatt erst lästig nochmal heim … Später hat es dann geheißen, der Bruder hätte zur Begrüßung etwas sauertöpferisch geguckt, das muss aber ein Missverständnis sein. Der Abend ging lang, vergnügt und unbefangen und läutete die Wasmeier’schen Weihnachtsfestspiele äußerst würdig ein, in deren Verlauf sogar die Tiere sprechen konnten, wenngleich nur die im handgeschnitzten Krippenstall, um den herum Erwachsene auf dem Boden lagen, um mit dem Zwergenkind „Jesus und seine Weihnachtsbagger“ zu spielen … Ich wünsche entspannte und friedvolle Weihnachten, Licht, Wärme, Nachsicht und Geduld – und wenn alles anders kommt: einfach laufen lassen. Frohes Fest!

Freitag, 15. Dezember 2023

Pinnwandfunde

 Letzte Woche habe ich meine Pinnwand aufgeräumt (alles, bloß nicht den Kleiderschrank!) – ein knapp zwei Quadratmeter großes Unvieh, dessen Korkbeschichtung zum Bersten gefüllt ist mit vornehmlich dem Komplettbeweis für meine tief verwurzelte Unfähigkeit, mit der Zeit zu gehen und digitale Notizmöglichkeiten als sinnvolles Hilfsmittel anzuerkennen. Und kleine Erinnerungsstücke wegzuwerfen. Unter uralten Briefmarken und kleinen Kuhglocken, Kopierkarten aus Studienzeiten und Zetteln mit Passwörtern längst verflossener Arbeitgeber, abgebrochenen Kettenanhängern und kleinen Grußkarten, vergessenen Zielen der Persönlichkeitsentwicklung, ausgerissenen Zeitungsfetzen, IBANs, Telefonnummern, Passbildern und bis aufs Äußerste verblassten Niederschriften genialer Ideen für die Kolumne fanden sich auch Dinge, die ich lächelnd zur Kenntnis genommen und an Ort und Stelle belassen habe. Handelt es sich doch hierbei um Zeugnisse der liebenswerten Unfähigkeit anderer Personen. Nämlich die zum Geschenke machen. Nämlich die meiner Familie. „Ich schenk dir einfach Geld, dann kannst du dir davon etwas Schönes gönnen“ ist ein zweimal jährlich (Geburtstag und Weihnachten) wiederkehrend geäußerter Satz, den ich freudig zur Kenntnis nehme und den Wunsch der Schenkenden mindestens so gern erfülle wie die Aufforderung, ein Lieblingswunschessen zu äußern und sich dann zum gemeinsamen Verzehr einzufinden. Ein anderes Mitglied der Familie ist stets so verzweifelt auf der Suche nach Freudebringern, dass es sich seit vielen Jahren mit Verve auf jedes noch so lapidar dahingesagte Begehr stürzt und dieses glücklich und völlig ungeachtet der Jahreszeit in ein Weihnachtsgeschenk ummünzt, was mir im Laufe meines Lebens schon Goldschmuck im Sommer, TV-Anlagen im Herbst oder Wellnesswochenenden zum Jahreswechsel beschert hat („Ich zahl dir das, dann ist das mit dem Weihnachten auch erledigt“). Eine ebenfalls äußerst liebenswürdige Angewohnheit, die leider – ich hab’s versucht – nicht steuerbar ist. Und dann gibt es noch zwei andere Hallodris, die über den Lauf der Jahre die Strategien gewechselt und je nach Alter an den Grad der erwarteten Vernunft angepasst haben. Während ich also bis heute auf mein Geschenk zum 30. Geburtstag warte, das zum damaligen Zeitpunkt „noch nicht ganz fertig war“, haben diese zwei Herzensmenschen in der jüngeren Vergangenheit den Gutschein für sich entdeckt, der sich vom eilig dahingeschriebenen und anschließend mit Küchengummi eingerollten Zettel über daheim mit leeren Tonern auf skurrilem Farbpapier Ausgedrucktes zu zuletzt immerhin offiziellen Schreiben entwickelt hat … Kinobesuch, Alpaka-Tour oder Exitgame – all das hängt an meiner Pinnwand und wartet fröhlich auf Einlösung. Und auf das, was sich dieses Jahr dazugesellen wird. Schönen dritten Advent! 

Freitag, 8. Dezember 2023

Alarmglocken

 Süßer die Glocken nie kliiiiingen, als in der Wahaainachtszeeeeeeit … Ein deutsches Volkslied, das uns seit dem 19. Jahrhundert beschallt und uns mit der Verkündung von Frieden und Freud‘ in Sicherheit wiegen will. In falscher, wohlgemerkt, denn was uns dieses Lied wohlweißlich vorenthält, ist, dass es sich beim süßen Geläut um das schrille Tönen von Alarmglocken handelt und der Gesang der Englein nichts weiter ist, als das anschwellende Kreischen eines formidablen Tinnitus‘. Und wen wundert’s. „Ich möchte am liebsten jeden Tag um 17 Uhr ins Bett gehen und am liebsten bis 17 Uhr dort bleiben“, gestand eine Freundin kürzlich, nachdem ich sie ob ihres anhaltenden Aktionismus gelobt, bewundernde Worte gesprochen und zu zwei Tagen Urlaub „einfach so“ beglückwünscht hatte. Die, fuhr die Freundin fort, habe sie nur genommen, „um alles zu schaffen.“ Was mich eigentlich nicht wundert, wenn ich mich so im Bekannten- und Kollegenkreis umhöre, der nach nur einer Woche Advent bereits schwer ächzt. Adventsessen nebst vegetarischer Alternative müssen ausgerichtet werden und Bäume nachhaltig selbst geschlagen. Man trifft Freunde („jetzt haben wir’s das ganze Jahr nicht geschafft, uns zu sehen!“) und Kollegen („um sich auch mal wieder anders zu sehen als immer nur im Arbeitskontext“), backt mit hochrotem Kopf und militärischer Disziplin Plätzchen und Stollen („die gekauften schmecken einfach nicht“), übt mit dem Nachwuchs Nikolausgedichte („lieber guter Nikolaus, rück mal die Geschenke raus“), durchforstet Hirn, Internet und den 17.  Kunsthandwerkweihnachtsmarkt nach individuellen Geschenken („nur eine kleine Aufmerksamkeit“), sorgt nebenbei für Bewegung an der frischen Luft („das gute UV kommt ja auch durch die Wolken“) und schaut dabei auf dem Smartphone einen schönen Weihnachtsfilm … Weil ich schon bei der Niederschrift dieses Adventskanons erhöhten Blutdruck bekomme, hab ich mir dieses Jahr das beste Vorbild genommen, das man sich denken kann, und versuche, mit der gleichen Entspanntheit, Nonchalance und Selbstliebe durch die Tage zu kommen, wie’s mir vorgelebt wird: Mit zwei Hapsen eine Wurst verschlingen, das gesunde Körnerbrot aber liegenlassen. Plätzchen, Waffeln und Lebkuchen so lange zu naschen, bis mir schlecht oder die Schale weggenommen wird. Nach Bücherlesen verlangen und dann doch lieber ein Puzzle machen. Mich über Schneematsch freuen und glücklich drin rumrühren, ohne an kalte Hände und nasse Füße zu denken. Bei Arbeitsandrohnung dringend und unabdinglich sofort mit den Kuscheltieren schmusen müssen. Treffensanfragen mit einem lapidaren „Nein, ich möchte nicht“ abwehren – und statt Geschenken lieber herzenslautes Lachen zu verteilen. Das klingt dann schon eher wie süße Weihnachtsglocken. Auch wenn der zwergenkleine Lieblingsneffe mehr „Bengelein“ ist als „Engelein“.

Freitag, 1. Dezember 2023

Kidnapping

Der Tag hätte so schön sein können. Draußen Schnee und Sturm aus allen Richtungen, der Himmel  verdrießlich und grau wie die Gesichter der Menschen, ich drinnen und frei von Terminen und dringlichen Aufgaben. Herrlich, dachte ich, der perfekte Tag für einen Ausflug in eine Therme! Müßiggang und kuscheliges Frottee, während der Pöbel in Arbeit und Kita verräumt ist – das mach ich!, und schnürte im Geiste schon mein Bündel aus Buch, Proviant und Faulheit, als sich plötzlich aus dem Nichts der Mann vor mir materialisierte, wild mit den Armen ruderte und das Schlimmste sprach: Ich verspräche seit Jahren, mich um „die Situation“ zu kümmern, die er lange geduldet, doch nunmehr für unerträglich befunden habe. Es sei heute „das perfekte Wetter dafür“ und ich habe ja „ganz offensichtlich eh nichts Besseres zu tun“. Er stünde nun persönlich Wache, damit ich das Haus nicht verließe, bis „das Thema restlos abgehakt“ sei und nein, er wolle jetzt nichts von „deinem Saustall im Keller hören“, da das eine mit dem anderen „rein gar nichts zu tun“ habe. „Du“, drohte der Mann, „mistest jetzt ENDLICH deinen Kleiderschrank aus!“ – „DAS IST KIDNAPPING!“ schrie ich und wälzte mich auf dem Boden, „HILFE!“, doch niemand half. „DAS IST DAS SCHLIMMSTE!“, weinte ich und warf mich ihm zu Füßen, „bitte bitte tu mir das nicht an!“, doch er blieb unerbittlich. „Ich fühl mich plötzlich gar nicht wohl, ich hab so Kopfweh und mir ist auch ein bisschen schlecht“, gestand ich und legte mich eilig ins Bett, doch Herr Gnadenlos ließ sich nicht erweichen … Auf zwölf Kubikmetern Schrank lagere textiler Unrat, von dem ich nicht mal wisse, dass es ihn gäbe, geschweige denn dass ich ihn anzöge. Es sei dem jetzt ein Ende zu bereiten! Zu allem Überdruss muss ich sagen: Er hat ja nicht direkt Unrecht. In meinen Schränken sind keine Klamotten, sondern meine persönliche Altkleidersammlung. Was von außen aussieht wie unendliches Chaos aus zum Bersten gefüllten Schubladen und Regalen mit neben- und hintereinandergestapelten Türmen ist in Wahrheit ein brillant austariertes System höchster Ordnung, thematisch und funktional sortiert. Es gibt da Teile für jeden Anlass (festlich, sportlich, Karneval). Es gibt Teile, die mir passen, solche für den Fall einer spontanen Wiedererschlankung sowie die für den umgekehrten (Not)Fall. Es gibt Stapel für Umzug, Streichen, Gartenarbeit, jedes meteorologisch denkbare Phänomen und Frivoles für den (unwahrscheinlichen) Fall eines journalistischen Rechercheeinsatzes auf einer Fetischparty. Und dann gibt es noch winzige Häufchen aus Klamotten, die ich wirklich und tatsächlich täglich trage – und von denen der herz- und gewissenlose Grobian denkt, sie seien die einzigen Teile mit Aufenthaltsrecht … Oje, jetzt kommt er mich holen! Schönen 1. Advent!

Freitag, 24. November 2023

Zeitrechnung

 Menschen tragen in sich einen komplizierten Algorithmus, anhand dessen Berechnung sie entscheiden, in welcher Einheit über bestimmte Zeiträume gesprochen wird. Am besten lässt sich das erklären anhand Eltern von Kleinkindern. Fragt man diese „Wie alt ist denn jetzt der kleine Luzifer-Gordon? Eineinhalb, oder?“ quieken sie laut auf und sagen mit beleidigter Oberlehrermiene „Nein, siebzehnkommafünf Monate.“ Das ziehen sie eine Zeit lang durch, bis es zu einem magischen, von außen unsichtbaren Turning-Point kommt, der es gestattet, in der Einheit „Jahre“ zu rechnen. Ob das auf kalkulatorische Defizite rückschließen lässt oder schlichtweg auf Faulheit, hab ich noch nicht ergründen können, fände es aber angemessen, diese Maßeinheit bis ins hohe Alter durchzuziehen. Wenngleich dann eher, um Verwirrung zu stiften statt Klarheit. Mamapapa, wenn ihr mal wieder nach meinem Alter gefragt werdet, dann sagt doch bitte „Ungefähr 500 Monate.“ Man wählt die Einheit wahrscheinlich irgendwie danach aus, was man mit der Angabe der Zeitspanne erreichen will. „Siebzehnkommafünf Monate hab ich dieses winzige Wesen schon am Leben gehalten“ klingt manchen vielleicht einfach beeindruckender als „eineinhalb Jahre“, außerdem schwingt für den Connaisseur hier eine wichtige Zusatzinformation mit, nämlich in welcher pikanten Entwicklungsphase sich der Nachwuchs grad befindet und warum den Verantwortlichen deswegen derzeit besonders nachsichtig und verständnisvoll begegnet werden muss. „Dreiundzwanzig Monate“ – au weh, Autonomiephase, die Ärmsten! „Fünfhundert Monate“ – allmächt, nicht mehr weit zur Midlife-Crisis! Wenn man sich selbst allerdings beschwichtig, noch fünf Wochen bis zur Abgabe eines wichtigen Projekts zu haben, klingt das unter Umständen weniger bedrohlich als „noch ein guter Monat“, wohingegen „ich bin ein Jahr auf Weltreise“ irgendwie krasser wirkt als „ich bin zwölf Monate unterwegs“ und „Ihr DHL Paket wird gleich zugestellt“ die ultimative Bedrohung darstellt, wie sie es eine konkrete Zeitangabe von „in fünf oder in zehn Minuten“ nie erreichen würde. Es bleibt kompliziert. Im vorliegenden, brandaktuellen Fall möchte ich euch deshalb gerne ein paar Zeiteinheiten vorschlagen, die ihr euch dann auf der Zunge zergehen, im Herzen wiegen und im Kopf durchkalkulieren könnt und dann selbst entscheiden, welche Variante für euch die Angenehmste oder Erschöpfendste sein könnte. Die Einheiten lauten: 43 200 Minuten. 720 Stunden. 30 Tage. Ein Monat. So lange ist noch Zeit, einen Baum zu basteln, Geschenkgutscheine in der Stadt zu schlagen, das Weihnachtsmenü auszuwürfeln und darüber zu streiten, bei wessen Schwiegereltern man lieber welchen Feiertag verbringen möchte. Na, wie fühlt sich das an? 

Freitag, 17. November 2023

No-vember

 In verschiedenen Schlaumeier-Beiträgen ist derzeit öfter mal zu lesen, der „November“ hieße, wie er heißt, weil es sich zu irgendwelchen unbekannten Zeiten antiker Herkunft und entsprechend unsinnig erfundenen Kalendarien hierbei mal um den neunten Monat des Jahres einer verwirrten und darum längst vergangenen Zeitrechnung gehandelt habe. Es würde sich also der Name vom lateinischen Wort für „neun“ ableiten, nämlich „novem“, und damit sei dann ja wohl alles geklärt. Ich als Linguistin kann da nur müde lächeln über diese alljährlich erneut verbreitete Mär. Denn schließlich weiß ich’s besser. „No“ ist hinlänglich bekannt als der weltweit verbreitete Laut für „nein“ (vgl. „no, grazie“, „no, merci“ oder „no, sänk you“). „-ember“ ist eine berühmte Endung, die im lateinischen Sprachraum für Monate steht, in denen es irgendwie gemütlich zugehen soll, in Wahrheit aber umso hektischer und verdrießlicher läuft (vgl. Dezember, der), während die Endung „-ar“ Monate kennzeichnet, in denen es saukalt und ungemütlich ist (vgl. Ar-ktis, die). Damit Präfix und Suffix besser über die Lippen rutschen, bedient sich das Deutsche eines sprachlichen Kniffs und hat für sich das sogenannte „Fugenmorphem“ erfunden. Das begegnet uns zwar meist als „s“ (Arbeit-s-zeit, Verband-s-kasten), im vorliegenden Fall ist aber aus ökonomischen Gründen das „v“ entstanden, einfach weil es viel weniger Energie bedarf, um es zu formen, und sich zudem ein „v“ noch mit dem vollsten Lebkuchenmund im Gegensatz zum „s“ garantiert korrekt aussprechen lässt. Nicht zu vergessen: „Nosember“ mag zwar als nominale Hommage an die traditionell kursierende Rotznase gereichen, klingt aber einfach ziemlich bescheuert. Daraus folgt: „No-v-ember“ bedeutet nichts anderes, als dass es sich hierbei um einen widerwärtigen Gruselmonat handelt, dessen Alltage sich durch eine strikte Verweigerungshaltung und Lebensverneinung kennzeichnen: „Möchtest du heute Nachmittag spazierengehen?“ – „NEIN!“, „Gehst du heute Abend mit zum Sport?“ – „NEIN!“ oder „Sollen wir nach der Arbeit noch in die Stadt gehen?“ – „NEIN!“ sind klassische Unterhaltungen des No-vembers. Aber warum? Nun, auch hier kann ich als Absolventin eines Bio-LKs weiterhelfen. Der Mensch ist vom Dings her ja ein Säugetier, und zwar nämlich hier ein mitteleuropäisches. Und was machen alle vernünftigen Säugetiere im Winter? Richtig: Winterschlaf. Dick und fett rollen sich Igel, Bär und Dachs in ihrer Höhle zusammen und ratzen durch, bis die Welt wieder Spaß macht. Nur wer muss da wieder eine Extrawurst braten? Richtig, der Mensch, der anstatt bis März in seiner Sofahöhle zu leben draußen herumspringen muss und irgendwas von „Arbeit“ und „Freizeit“ faseln. Ich mach da nicht mit, schließlich ist No-vember. Ob ich was am Wochenende unternehmen will? NEIN, natürlich nicht! 

Freitag, 10. November 2023

Mehr Pepp

 „Komm schon Schatz, du musst mal ein bisschen Farbe an dich bringen!“ Was für ein magischer Satz, den eine gute Freundin da unlängst lapidar in meine Richtung warf – und mich damit nachhaltig aus der Bahn. Wir hielten uns in einem Geschäft auf, das ich nie zuvor betreten hatte. Und während die Freundin mit großen Augen ein kreischbuntes Teil nach dem anderen aus den Regalen zog und sich begeistert in die absurdesten psychedelischen Muster und Pullover mit aufgestickten Teekannen und Kuchenbuffets kleidete, blätterte ich mit spitzen Fingern durch die Klamottenreihen und fragte mich, wer in Dreiteufelsnamen derart quietschendes Gewand freiwillig anziehen würde. Ich blickte an mir herunter und fühlte mich ungerecht behandelt: dunkelblauer Mantel, gedeckter Leopardenschal, schwarze Hose, schwarze Schuhe – was sollte daran plötzlich falsch sein? „Nee mal im Ernst, das braucht alles mal bisschen mehr Pepp!“, rief die Freundin und wedelte mit einer stoffgewordenen Katastrophe aus Froschgrün und Pink, um mir sodann eine knallblaue Mütze aufzusetzen, mit der ich ausgezeichnet gut einer Gruppe Erstklässler beim Überqueren einer Straße hätte assistieren können … Seitdem bin ich leicht verunsichert. Mein Kleiderschrank ist mehr als gut bestückt, in der Tat befindet sich auf den Stapeln der Klamotten, die ich wirklich trage, jedoch eine sich wiederholende Farbpalette: freches Weiß, fröhliches Schwarz und lebensbejahendes Grau. In diesem Spektrum gibt es alles vom dicken Winterstrickpullover bis zum leichten Sommerkleidchen, und ich fand bislang, mit dem farblichen Zugeständnis roter Fingernägel sei der Buntheit meiner Outfits Genüge getan. Zumal ich letztes Jahr bereits einen ausgesprochen forschen Schritt in Richtung „Farbe ins Wintergrau“ gemacht und mir eine sehr gelbe Mütze zugelegt habe, die über schwarzem Schal und grauem Mantel vergnügt vor sich hin leuchtet. Und das soll jetzt nicht mehr reichen? „Ich hab beschlossen, es braucht mehr Farbe im Leben“ hatte eine andere Freundin schon vor Wochen verkündet und sich binnen kürzester Zeit von der gedeckten Eleganz, die wir gemeinsam kultiviert haben, verabschiedet und sich in einen strahlenden Paradiesvogel verwandelt, der das Haus nicht mehr verlässt ohne roten Lippenstift. Ich hingegen bin völlig aufgeschmissen und habe Sorge, mich auf der Suche nach dem Pepp in eine stereotype Dame mittleren Alters zu verwandeln, die mit peppigen Klamotten, Frisur und Accessoires versucht, Pepp in ihr Leben zu bringen und vom mittleren Alter abzulenken. Immerhin: Gestern war ich mutig – und habe mir einen strahlblauen Pullover zugelegt, mit dem ich mich schon sehr peppig fühle. Mal sehen, wo die Reise hingeht. Grau ist es ja draußen echt genug.

Freitag, 3. November 2023

Bucklige Verwandtschaft

 Die „bucklige Verwandtschaft“ heißt der Legende nach so, weil arme Verwandte früher im Souterrain oder auf dem Dachboden leben mussten. Weil es dort keine geraden Wände gab, führte das zu Körperdeformationen und der geflügelten Buckligkeit. Meine Verwandtschaft ist nicht bucklig. Ganz im Gegenteil schreiten so ziemlich alle der beinahe 25 Angehörigen äußerst stolz durchs Leben, auch wenn bei der ein oder anderen langsam die Beine krumm werden. Aber was macht das schon, so lange der Kopf helle und die Gedanken bunt sind. Was meine Verwandtschaft jedoch eint, ist nicht die Buckligkeit, sondern das Geschrei. Wenn ich jemandem kurz erklären möchte, aus welcher Sippe ich stamme, sage ich oft: Stell dir einfach das Klischee einer süditalienischen Großfamilie vor – nur auf bayerisch, aber mit genau so viel Wein.“ Der Lautstärkepegel stimmt allemal. Ich konnte das jetzt ganz frisch erst wieder überprüfen, denn wir haben uns erstmalig seit dem Ableben des Gründervatis und der Gründermutti wieder getroffen – erstmalig alle zusammen und nicht in übers Land verteilten Häppchen. Ich liebe jeden einzelnen und jede einzelne von ihnen von ganzem Herzen. Aber sagen wir mal so: Am ersten Abend war es bereits soweit, dass ich, die ich ja gemeinhin eher nicht im Verdacht stehe, ein übertrieben feinfühliges Wesen zu sein, sprunghaft den Raum verlassen musste, in dem sich alle zum gemeinsamen Mahl niedergelassen hatten, um nach nebenan zu flüchten, um mich dort in einen Eierkarton zu verkriechen, während sich nebenan riesige Schüsseln mit dampfenden Speisen und Weinflaschen gereicht wurden – und dabei jede Person versuchte, ihrer selbstverständlich wichtigen Botschaft angemessen Gehör zu verschaffen („GIBT ES NOCH WEIN? ICH TÄT NOCH EIN SCHLÜCKCHEN!“). Es begann also ein viertägiges Geschrei. Geschrei bei der Begrüßung („MEINE GÜTE IST DAS TOLL DASS DU GEKOMMEN BIST ICH FREU MICH WAHN-SIN-NIG!“), Geschrei bei jedem Abschied („ABER MORGEN REDEN WIR WEITER!!“). Geschrei beim zu Bett gehen („JETZT SEID EINMAL PST, DIE SCHLAFEN DOCH SCHON!!“), Geschrei beim morgens Aufwachen („MEINST DU WIR MÜSSEN NOCH LEISE SEIN ODER SOLLEN WIR DIE MAL AUFWECKEN?!“). Geschrei beim Frühstück („HAST DU JETZT EINFACH DAS LETZTE HÖRNDL GEGESSEN?“), Geschrei beim Abendessen („DU KANNST DOCH JETZT HIER KEINE BAYERISCHEN TRINKLIEDER SINGEN?“ – „ABER WARUM DENN NICHT, WIR SIND DOCH AUS BAYERN!“), Geschrei den ganzen Tag („ICH MÖCHTE JETZT WEITERGEHEN!“ – „ICH NICHT!“ – „ICH AUCH.“ – „ICH HAB HUNGER!“) … Nach vier wunderschönen Tagen haben wir uns wieder trennen müssen und in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Was bleibt, sind die zärtlichsten Erinnerungen. Und so ein verdächtiges Piepen im rechten Ohr. An der buckligen Verwandtschaft kann’s nicht liegen – aber an der schreierten vielleicht doch. 

Freitag, 27. Oktober 2023

Halloween

Was haben Halloween und Allerheiligen gemeinsam? Richtig, bei beiden herrscht weitestgehend Unwissenheit darüber, warum es das gibt und was das überhaupt soll. Aber sonst? Eins ist abends, das andere eher tagsüber, eins ist laut, bunt und Party, während das andere so ziemlich genau das Gegenteil davon bedeutet. Aber wie so vieles, was über den großen Teich zu uns geschwappert kommt und hier als hipper Scheiß made in USA gefeiert wird, kommt Halloween natürlich in Wahrheit sehr wohl aus good old Europe, nämlich aus der katholischsten aller Regionen. Nein, nicht Bayern, sondern Irland, und das sieht man dem „Halloween“ zwar nicht an der Nasenspitze, wohl aber unter den zotteligen Gespensterhaare an: „Halloween“ ist gewachsen aus „All Hallows' Eve“, was wiederum nichts anderes bedeutet als „Abend vor Allerheiligen“ … Ich sinniere über dieses edle Wissen mit einer großen, sehr großen Schüssel in weiß-rotes Bonbonpapier gedrehter Schokokugeln, von denen ich mir eine nach der anderen genüsslich in den Mund schiebe. Die guten ins Kröpfchen, die schlechten … auch! Denn schließlich habe ich eine Mission zu erfüllen: meinen Beitrag zu Halloween, dieses zweitschrecklichste Event für einen Verkleidungsgrinch wie mich, der sich höchstens vor dem morgendlichen Atem gruselt und sich ausschließlich aus Gründen der romantischen Verklärung verkleidet, nämlich an Weihnachten mit Elfenhut und Weihnachtsmannpullover. Und deren einzige nennenswerte, eigentlich: geschichtsträchtige Halloweenpartyerfahrung die ist, dass einmal vor langer, langer Zeit zwei Nachbarsmädchen eine Gruselparty im sturmfreien Elternhaus gaben. Einzig zu dem Zweck, unter die wenigen Gäste einen schon lange Angebeteten zu mischen und diesen dann als bleichgeschminkte Schönheiten zu umgarnen und mittels Gummischlange zur Erwiderung der großen Liebe zu hypnotisieren. Bedauerlicherweise waren die zwei Nachbarsmädchen vor Aufregung selbst so hypnotisiert, dass sie in der Folge zwar kein Herz eroberten, wohl sich aber die lebenslange Häme der Eltern nebst einem Eintrag ins Familiengeschichtsbuch sicherten. Merke: Teelichte, die man ohne ein Teelichtbehältnis außenrum auf helles, am besten weißes Holz stellt, werden so heiß, dass das Holz beginnt zu kokeln. Und Teelichtwachs, das seit Stunden vor sich hin simmert, ist irgendwann so erhitzt, dass es Teppichböden problemlos zum Schmelzen bringt und organische, großflächige Muster hinterlässt, die es unmöglich machen, zurückkehrenden Elternmenschen die Party zu verheimlichen … Meine Mission also ist, mehrere Kilo Schokokugeln auszuwickeln und ins gewonnene Papierl knoblauchgefüllte Oliven sorgfältig einzuzwirbeln, auf dass es die Eltern, die am Dienstagabend unter dem Vorwand der Kindsflankierung fröhliche Bierspaziergänge durchs Quartier unternehmen, recht graust, wenn sie ihren Sprösslingen die Beute wegstibitzen!

Freitag, 20. Oktober 2023

Dekoprofi

 Es ist Herbst. Wenn jemand an diesem Gedanken Zweifel oder irgendwelche Probleme haben sollte, empfehle ich einen Besuch in einem stadtbekannten Pflanzengroßhandelsmarkt, der seinem Dekorationsauftrag grade gewissenhaft nachkommt und vom stimmungsvollen Kürbis-Bouquet über lustige Pilz-Figuren bis prächtige Laubteppiche alles anbietet, was Freunde der saisonalen Raumgestaltung aktuell glücklich macht. Und ja, es gibt diese Menschen, die mehrfach im Jahr die Wohnung umdekorieren und dafür unvorstellbare Massen an Gestaltungselementen im Keller oder auf dem Dachboden aufbewahren, um je nach Temperatur oder persönlicher Stimmung den Wohnraum in passender Optik zu präsentieren. Ich kenne zwar so jemanden, gehöre aber selbst nicht dazu, sondern schaue einer geernteten Kastanie ebenso interessiert beim Vertrocknen zu wie all meinen Balkonpflanzen, die den Kampf erst gegen mich und nunmehr gegen die Kälte verloren haben und als ein unglaublich trauriges Bild der Verdörrnis und Nichtliebe vor dem kältebeschlagenen Wohnzimmerfenster mich mit letzter Kraft vorwurfsvoll anschauen und gelegentlich mit einem letzten verblieben grünen Blättlein winken. Manchmal weht es auch ein vertrocknetes Blatt durchs Fenster. Morgens sind jetzt immer schon die Scheiben so schön beschlagen, während sich verschiedene Spinnentiere anschicken, ihr Winterquartier in den Ecken der Räume zu beziehen und in der Küche ein Kürbis darauf wartet, dass ich ihn zu Speise verarbeite, bevor uns beide der Kreislauf des Lebens überholt und er nurmehr für den Bio-Müll taugt. Im Großen und Ganzen ist mir das Herbst-Deko genug, und wenn man noch die schlagartig angestiegene Zahl an Schals und dicken Jacken dazunimmt, die sich momentan mit den eben noch genutzten leichten Blousons um den wenigen Platz in der Garderobe streiten und darob den ein oder anderen Stuhl bevölkern, dann wird’s einem doch ganz heimelig ums Herz. Nebst der sich im Dauereinsatz befindlichen Wärmflasche, Teekanne und den Schlappen, die mich neulich noch barfüßig durchs Dolce Vita trugen und jetzt meine dick besockten Füße unterm Schreibtisch vergeblich vor den gröbsten Erfrierungsschäden bewahren sollen sowie der bodenlangen Wolljacke, in die ich mich gehüllt habe, ist das Ensemble weitestgehend komplettiert, so dass ich weder Veranlassung noch auch nur einen Fitzel Platz um mich herum entdecke, um Stoffrehe, Styroporpilze und Herbstlaubkränze aufzustellen … Hm. Eigentlich wollte ich gerne über das drohende Weihnachten, Bastelzeit, Halloween und den richtigen Zeitpunkt zum Einschalten der Heizung schwadronieren, habe aber offenbar den Faden verloren. Den nehm ich nachher wieder auf und zwar mit meiner neuen Passion: Strickliesel, die garantiert sinnloseste Beschäftigung für kalte Herbstabende.

Freitag, 13. Oktober 2023

Kastanientiere

 Normalerweise freut man sich ja nicht so richtig, wenn einem urplötzlich von oben etwas auf den Kopf fällt. Vielerlei ist denkbar, meist ein Vogeldings, gelegentlich mal ein Dachziegel oder wenn alles wirklich sehr schlecht läuft und man ein Gallier ist, kann einem sogar der Himmel auf den Kopf fallen. In meinem Fall aber: Herrliches Aufjauchzen, große Freude, sofortiges auf den Boden Werfen und im Unterholz Herumwühlen auf der Suche nach: einer Kastanie. Diesem handschmeichelnden Stück Natur, dem es Jahr für Jahr allein kraft seiner Existenz gelingt, aus Erwachsenen kleine Kinder zu machen, die jucheissassa den braunen Kugeln hinterherjagen, sie armvoll aufsammeln, tütenweise nach Hause schleppen und den Fund schwungvoll auf den Wohnzimmertisch kippen – wobei der Blick der Außenstehenden frappierend demjenigen ähnelt, den man der Katze zuwirft, die stolz ein Mauserl als Geschenk darbietet. Ich also: „KASTANIE!“ und sogleich: „TIERE BASTELN!“ Ich meine, wozu hab ich denn schließlich endlich ein Kind, das mit mir all die schönen Dinge tun kann, für die andere Erwachsene zu erwachsen sind? „Die beste Lieblingstante bastelt mit dir heute Kastanientiere, mein Schatz!“, sagte ich zum Schatz, der mich mit großen Augen ansah, nickte und nach kurzer Überlegung nach „Tuchen!“ verlangte. „Kuchen kriegst du auch, aber erst wird gebastelt!“, verkündete ich vergnügt und schulterte meinen großen Jutebeutel, in den ich eine ausreichend große Menge Kastanien geschaufelt hatte, um das komplette Sortiment der Arche Noah nebst Ausgestorbenem und Zukünftigem nachzubauen. Unter Einsatz meines Lebens, denn während der öffentliche Raum dank gieriger kleiner Kinderhände von Kastanienabwesenheit nur so glänzte, glänzten die braunen Wunderkugeln in einem benachbarten Grundstück ungeliebt und in großer Anzahl vor sich hin. Eine Tante muss tun, was eine Tante tun muss, und so erleichterte ich die Anwohner kurzerhand um eine Fuhre Gartenabfall und trug sie heimlich aus dem Grundstück. „Tuchen?“ frug das Kind, und ich, streng: „Erst arbeiten!“ und begann das kreative Werk am Esstisch. Zahnstocher und Schaschlikstäbe, Handholzbohrer klein und mittel, Pfeifenputzer, Wackelaugen – was für ein Spaß! „Jetzt Tuchen?“ insistierte der Zwerg, nachdem er artig zwei Zahnstocher in zwei Beinlöcher gesteckt und unartig wieder herausgerissen hatte. „Gleich, ich mach das mal!“ sagte ich … Und wachte nach einer Stunde wieder auf. Um mich herum die Arche Noah und darüberhinausgehendes Fantasiegetier aus Kastanien: glotzende Würmer, kurzhalsige Giraffen, einäugige Kühe – ein herrlicher Anblick. „Ich bin stolz auf … äh … uns?“ wunderte ich mich und entdeckte das Kindlein weit weg von mir auf dem Boden, umgeben von Lego, Hubschraubern und Kuchenkrümeln. Hm. Vielleicht ja nächstes Jahr.

Freitag, 6. Oktober 2023

Rentnerparadies

 

Grade rechtzeitig zum Herbsteinbruch bin ich wieder zurück aus dem Land, wo zwar von Milch und Honig keine Spur ist, dafür aber Pils und Fischsemmeln fließen. Ostsee also, und Leute, wir müssen reden. Es gibt vieles, was dafürspricht, diese Gegend zwischen Rostock und Stralsund zu besuchen, die ich mir in den letzten Tagen angeschaut habe. Leider fällt mir grade keiner dieser Gründe ein, außer vielleicht dass es wirklich sehr schön ruhig und sehr wenig aufregend ist und darum bestimmt genau das richtige für Menschen Ü75. Doch, da kann ich das wirklich wärmstens empfehlen. Morgens schön Frühstück vom Buffet, mittags schön Fischsemmel, dazu kleines Bierchen für sechs Euro, abends auch. Dazwischen fünf bis 50 Kilometerchen auf dem eBike und dabei die Mischung aus präpolnischer Trostlosigkeit und maritimem Disneyland genießen und den Blick über eine Landschaft streifen lassen, in der weder ein Berg noch sonst überhaupt irgendein Hauch von Anblick das Auge stört, im Ort günstig shoppen im Camp David Outlet, dazu Waffel oder Softeis nach dänischem Vorbild und ein Kaltgetränk an der Seepromenade, die grad wegen Ostförderung mit baustellendonnerndem Charme zu bestechen weiß. Dann ab ins Kurhotel und am nächsten Tag alles von vorn – schon bei der Niederschrift tiefenentspanne ich augenblicklich und falle sogleich in einen geruhsamen Tagschlaf. Und dann gibt es aber Gründe, die also wirklich ausdrücklich gegen eine Reise an dieses „Ostsee“ sprechen, und die kann ich ganz vorzüglich benennen. Allen voran zu nennen wäre da: Sand. Ein Konzept, das sich mir seitdem ich denken kann nicht erschließen will, zumal wo es doch so schöne Wiesen gibt, und wenn das nicht geht, wenigstens Gummimatten oder einmal schön rausfliesen, das geht doch heutzutage schnell. Aber nein, diese Meeresmenschen und ihr Sand! Ich mein, ich stell mich doch daheim auch auf keinen Spielplatz im höchsten Sturm und freu mich hernach, dass ich den Sand aus zwischen den Zähnen und jedem einzelnen Haarfollikerl wieder rauspopeln darf. Und plötzlich findet man sich auf sogenannten Wanderwegen wieder, wo weit und breit kein Weg in Sicht, wohl aber ein kilometerbreiter Sandabschnitt zu durchpflügen ist, den man mit Schuhen nicht bewältigen kann, sonst hat man hernach Sand nicht nur darin sondern in jede einzelne Sockenfaser säuberlich eingerieben und den restlichen Tag Schleifpapier am Fuß. Ohne Schuhe aber auch nicht, weil … also … weil SAND! Sand im Rucksack, Sand unter den Nägeln, Sand im Käsebrot. Niemand hat mir das bislang hinreichen erklären können, was das soll. Dafür kann ich mir die Antwort auf eine andere Frage direkt selbst geben: Warum soll ich sieben Stunden nach Norden fahren, wenn ich doch in der gleichen Zeit im schönsten aller Bellaitalias sein kann, wo ich zwar prinzipiell das gleiche habe wie oben beschrieben, aber eben in Italien – und wenn man nicht zu weit fährt, dann auch absolut ohne Sand?

Freitag, 29. September 2023

Ostsee

 Mir ist noch was eingefallen zum Thema „Urlaub“, was letztes Mal hier nicht mehr reingepasst hat. Jetzt passt es aber umso besser, weil ich grad nochmal in einem solchen weile. „Intermittierendes Reisen“ heißt das: Statt eines großen, langen Urlaubs lieber viele kleine, damit der Reiz erhalten bleibt und man sich immer wieder mit einer kleinen Reise spontan überraschen kann anstatt sich weit im Voraus an zu viel Vorfreude zu langweilen und so viel Zeit mit dem Studium von Reiseführern zu verbringen, dass man sich die Reise selbst dann eigentlich sparen könnte, weil man weiß ja schon alles. Es ist auch für den Alltag besser, der immer ein bisschen feurig lodert, weil man weiß ja nie, ob man nicht vielleicht in den kommenden Tagen spontan auf eine Reise fährt, ist also immer ein bisschen auf alles gefasst, weil es kann immer passieren, dass man morgens aufwacht und einer sagt: Hoppsassa, pack deine Tasche, wir fahren morgen, und ehe du dich’s versiehst hast du Deutschland einmal quer durchschnitten und wachst an einer Küste auf, wo das Hauptnahrungsmittel Fischsemmel in allen Variationen ist, fürs oktoberfestliche Heimatgefühl die halbe Bier (Pils!) sechs Euro kostet und zwar alles voller Wasser ist, dafür weit und breit niemand auch noch einen Hauch von norddeutsch spricht, wie du (ich) irritiert und vielleicht mit einem Hauch baiuvarischer Borniertheit feststellen musst. Welcome to Ostsee, dem Land wo es immer saukalt und unfassbar windig ist. Dachte ich, meines Zeichens Einwohnerin der Insel der Glückseligen (Nürni), während ich den Kofferraum bis zum Anschlag voller langer Hosen, Rollkragenpullover, Gummistiefel und wind- und regendichte Winterjacken befüllte, denn der Wetterbericht verhieß zwar 23 bis 27 Grad, „aber man weiß ja wie das dann schlimm tut wenn der Wind dauernd so eiskalt vom Meer kommt!“ Wundersamerweise tragen hier alle Shirts und Flipflops, es scheint also nicht so kalt zu sein wie ich befürchtet hatte, habe aber auch noch nicht allzu viel gesehen, denn schließlich weile ich erst seit zwei Tagen hier. Was mich noch mehr beschäftigt aktuell ist das Phänomen der „Ferienwohnung“, auch liebevoll „FeWo“ genannt, die man statt eines Hotels gewählt hat wegen lieber Unabhängigkeit statt Frühstücksbuffet. Das Gute an einer Reise mit Auto und FeWo ist, dass man alles mitnehmen kann was man vielleicht braucht. Das Schlechte daran: auch, und so haben wir die FeWo nicht bezogen, sondern feindlich übernommen und es geschafft, in einem einst sehr adrett aufgeräumten Ort innerhalb von fünf Minuten zu explodieren und einen kompletten Hausstand, der eben noch in Koffern und Taschen arglos verpackt war, über drei große Zimmer zu ergießen. Ich werde also gleich einen Ausflug machen mit einem Schiff (!) übers Meer (!!) und habe absolut keinen Schimmer, wo sich meine extra für diesen Zweck eingepackte Touristenverkleidung befindet. Ich geh mal suchen. 

Freitag, 22. September 2023

1000 Teile Puzzle

Gestern Abend wollte ich etwas eintuppern. Schön Reste vom Dinner, damit das tags darauf nochmal ein schönes Mittagessen ist. Leider war mir das Eintuppern nicht möglich, denn bei einem Blick in die einschlägige Tupperaufbewahrungsabteilung fand sich nicht nur keine geeignete Schüssel, sondern schlichtweg gar keine. Das ist jetzt erstmal nicht so unfassbar verwunderlich, schließlich kennt man den Circle of Tupperware, der dem Circle of Jutebeutel oder dem zumindest Rauchern bekannten Circle of Feuerzeug stark ähnelt: Einer hat’s, dann hat’s schwupps der andere und es kehrt nie mehr zum Ursprungsbesitzer zurück. Weil ich aber sehr sicher war, dass ich in den letzten Monaten sehr wenige Speisen an andere Menschen verteilt habe, um genau zu sein nämlich gar keine, stand ich vor einem Rätsel, dessen Lösung mir erst nach einigem Grübeln einfiel: Wir puzzeln ja jetzt! Ich sage absichtlich „wir“, obwohl ich meine zumindest freiwillige und aktive Beteiligung an dieser schrecklichsten aller Freizeitbeschäftigungen weit von mir weisen möchte. Schon alleine aus dem Grund, dass es sich bei der vorliegenden Geduldsprobe um ein, Achtung, 1000 Teile-Puzzle handelt – ja spinn ich denn? Ich kann mit einiger Bemühung vielleicht einen 100-Euro-Schein wieder zusammenpfriemeln, der im Streit versehentlich in zwei Teile zerrissen wurde, das schon. Aber 1000 Teile? Niemals! Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei dem zerborstenen Bildnis um eine zwar durchaus pittoreske, aber für Puzzlerei völlig unzumutbare Landschaftsaufnahme handelt, die zu relativ gleichen Anteilen aus folgenden Bildbestandteilen zusammengesetzt ist: 30 % blauer Himmel, 30 % grüne Bergwiese und 30 % grauer Berg. Anhaltspunkte fürs richtige Zusammensetzen: null, völlig korrekt. „Ja spinnst jetzt du?“ hab ich mich freundlich erkundigt, als der Mann stolz seinen neusten Besitz präsentierte. „Hab ich im Gebrauchtwarenhaus gefunden, ist noch originalverpackt“, freute sich der so Befragte und wedelte mit einer großen grünen Schachtel, in der es verhängnisvoll raschelte. Sogleich machte man sich ans Werk, und jetzt kommt das „wir“ wieder ins Spiel: Ich puzzle gewissermaßen, obwohl ich jede Bitte um Hilfe weit von mir gewiesen habe, mit, denn schließlich will so ein 1000-Teile-Puzzle ja auch irgendwie aufbewahrt werden, und das geschieht am besten auf einer sehr großen Kartonage, die mehrfach täglich vom Ess- auf den Couchtisch jongliert wird und wieder zurück … Außerdem trockne ich die Tränen des Mannes. Nicht. Seit vier Wochen steht das wohnt das Puzzle jetzt bei uns, seit vier Wochen hab ich keine einzige Schüssel mehr im Haus. Darin befinden sich nämlich die verzweifelten Versuche des Mannes, Puzzleteile nach irgendeiner Sinnhaftigkeit zu sortieren. Vielleicht fällt mir mal alles aus Versehen runter. Mal gucken.

Freitag, 15. September 2023

Einschulung

 

2017 war in meinem Umfeld offenbar ein geburtenstarker Jahrgang, zumindest ist das für mich eine Schlussfolgerung aus den zahlreichen Fotos, die mich letzte Woche auf den herkömmlichen digitalen Kanälen erreichten. Darauf zu sehen: Höchst adrette Kinder, die den quirligen Schreischratzen, die ich so kenne, zum Verwechseln ähneln, die mit einer Mischung aus sinister und erleuchtet in Kameras strahlen, die Haare ordentlich frisiert, der Kinderkörper gehüllt in feines Gewand (was mich in mindestens einem Fall sehr enttäuscht, war mir doch kurz zuvor noch eine Einschulung im Pokémon-Pyjama versprochen worden, aber naja), in den Armen eine kindsgroße Schultüte, an der die mageren Gestalten schwer, doch strahlend zu tragen haben, als Gegengewicht auf dem Rücken topmoderne Ranzen. Die Schultüten sind allsamt in höchstem Maße selbst gebastelt, was bei der einen mehr, bei der anderen weniger unverkennbar ist, von kreativen Mutter- oder Vatermenschen, die ihre ganze Liebe in das Werk gepackt haben. „Weißt du noch, was du zu deiner Einschulung anhattest?“, hab ich die Freundin gefragt und statt einer Antwort nur ein Geräusch erhalten, das einem herkömmlichen Brechreiz nicht unähnlich war. „Aber natürlich!“, folgte auf das Geräusch, sowie eine Aufzählung der allerschlimmsten Schrecklichkeitsbeschreibungen à la „das grauenhafteste Kleid auf der ganzen, nein, IM ganzen Universum, selbst genäht von der Oma, angeblich wollte ich das so, dazu eine WEIßE Strumpfhose und grässliche blaue Schnallensandalen, und dann auch noch diese TOPFFRISUR …“– „Und die Schultüte, war die gekauft?“ – „Nein natürlich NICHT, sondern selbst gemacht und angeblich so, wie ich mir das auch ausgesucht hätte, mit einem hässlichen Bären, der ein KLEID anhatte. Fürchterlich! Ich such mal das Foto und schick’s dir.“ Nach der Beschreibung kann ich’s kaum erwarten und habe mich in der Zwischenzeit auf die Suche nach dem Zeugnis meiner eigenen Einschulung gemacht – und siehe da, die Freundin scheint nicht ihr eigenes Outfit beschrieben zu haben, sondern das meinige, das ich zwar nicht als das grauenhafteste der Welt beschreiben würde, wohl aber kommt mir mindestens der Herstellungsprozess bekannt vor: Auf dem Foto grient unter einer hängenden Spaghettifrisur ein junges Ich hervor, das in einem selbstgenähten Kleid mit hässlicher Strumpfhose und absolut unpassenden Sandalen auf dem Rücken eine Schultasche gigantischen Ausmaßes trägt, die die Bezeichnung „Tornister“ nur verdient hat, in den Armen eine selbstgebastelte (wunderschöne!) Schultüte, die nur leider damals nicht Ausdruck fürsorglicher Eltern war, sondern zumindest in meiner Erinnerung Ausdruck einer „die kann sich keine gekaufte leisten“-Haltung – der perfekte Start in den Klassenverband! Ansonsten kann ich mich an diesen Tag ungefähr null mehr erinnern – kann wohl doch nicht so besonders aufregend gewesen sein wie immer alle behaupten.

Freitag, 8. September 2023

Letzte schöne Tage

 Letzte Woche besonderes Ereignis: Ich war im Freibad. Nee, das war natürlich noch nicht besonders, sondern: Ich war im Freibad – und habe jämmerlich gefroren. Dabei hatte es wie das selbstverständlichste überhaupt ausgesehen: Wetter nochmal gut, später Sommer olé, ab in die Badestube. Dass ich dort auf Anhieb einen Parkplatz bekommen habe, hätte mich bereits stutzig machen soll. Dass außer mir ungefähr noch zehn andere Menschen vor Ort waren, auch. Doch richtig begriffen hab ich’s erst, als ich mich vor dem beißenden Sonnenlicht in den lindernden Schatten geflüchtet hatte, dort sorgfältig ein wenig Laub gerecht und niedergelassen hatte, nur um kurze Zeit später alles um mich zu wickeln, was irgendwie wickelbar war, und eben jämmerlich zu frieren. Da war mir klar: Ok, das war’s jetzt. Mit dem Sommer. Ab jetzt beginnt die Herrschaft der Kälte, des Regens und des Sturms, der Rollkragenpullover und Gummistiefel, der verdrießlichen Gesichter und laufenden Nasen. Und schon hat sich in mir ein inneres Wehklagen erhoben, ein bodenloses Bedauern darüber, den Sommer nicht anständig ausgenutzt zu haben. „Ich bin seit Mai durchgehend gestresst“, hatte auch direkt jemand mokiert, der den Sommer so anständig ausgenutzt hat wie nur jemand ihn ausnutzen hätte können. „Ich möchte jetzt Herbst“, sprach er weiter. „Und jetzt wird’s aber doch erst nochmal schön. O Gott …“ Und ich wusste genau, was ihm Schmerz bereitete: Die Not der „letzten schönen Tage“. Ähnlich der Panik, die die Menschen befällt, wenn das Thermometer erstmalig an der 20 Grad-Marke kratzt, keimt eine neue Emsigkeit auf, wenn das sich das Thermometer anschickt, dies erneut zu tun, nur dieses Mal in der anderen Richtung. Vor dem inneren Augen zieht ein ganzes Leben an einem vorüber, zumindest ein ganzer Sommer, in dem man – ja was eigentlich getan hat? Zu wenig, wenn nicht gar nichts! Man war wieder nur in den selben drei Biergärten statt wie fest geplant mindestens zehn neue auszuprobieren. Man hat wieder nur ein Mal und damit viel zu selten gegrillt, war nicht SUP fahren mit der Freundin, nicht Schlauchbootfahren auf dem Fluss, nur in einem Open-Air-Konzert und hat also schlichterdings überhaupt nichts erlebt. Aber es gibt eine letzte Chance: die letzten schönen Tage, in denen mit emsiger Betriebsamkeit nochmal alles gegeben werden kann! Und alles verbunden, wegen der Effizienz. Man kann die große Fahrradtour zum See machen, man muss dabei halt ein SUP auf dem Rücken transportieren. Man kann natürlich ein Biergartenhopping veranstalten, darf dann aber nur in jedem zweiten auch was trinken (Zeit!). Und man kann natürlich sehr wohl gleichzeitig ein Minigolf-Turnier austragen, grillen und ein Open-Air-Konzert veranstalten, alles eine Frage der Überzeugungskraft und des Willens. Oder man denkt sich: Es ist eh noch den ganzen September und Oktober schön, entspann dich mal! 

Freitag, 1. September 2023

Sommerfrische

 Ich wollte ja eigentlich von der Sommerfrische erzählen – oder Urli, wie das 100 Jahre später heißt, was ich prinzipiell begrüße, in diesem Fall jedoch gerne beim traditionellen Wort bleiben möchte, denn es hat sich alles rundum ganz und gar so angefühlt: Flucht aus der stickigen Stadt aufs frische Land, dort lustwandeln zwischen Bergen, Tälern und Seen auf Spuren König Ludwigs und zugegebenermaßen einem gerüttelt Maß an Touristen. Anders gesagt: Ich war eine Woche im Allgäu, um einmal wieder durchatmen zu können im wahrsten Wortsinne, weil während daheim nämlich „Fenster auf – Baustellendreck“ war dort „Fenster auf – Heumaht“, und stinkt, pardon, die Stadt halt schon gewaltig dagegen ab, und während mir daheim jetzt grad beim Schreiben morgens um acht Uhr schon die Ohren klingen wegen einer großen Baumaschine, bimmeln im Allgäu höchstens die Glocken der glücklichen Kühe. Also ohne das jetzt überromantisieren zu wollen – es war irrsinnig schön, und am liebsten tät ich sogleich wieder fahren oder gar nicht erst weggewesen sein. Letzteres vielleicht sogar noch lieber, denn dann hätte ich eine Chance, mir den schlimmsten größten Urlaubsstress zu ersparen, der mich umtreibt, seitdem ich weiß, dass 1. „Urlaub“ im Gegensatz zu „Sommerferien“ auch mal ein Ende hat, 2. dieser zudem eigenes, sauer verdientes Geld kostet und 3. im vergleich zum Schulmodell relativ selten sich ereignet: die Angst vor dem letzten Tag. Die Angst vor dem letzten Tag beschäftigt mich spätestens ab dem Moment der Ankunft am Zielort, meist jedoch bereits beim Packen, denn schließlich wird einem dabei bewusst, dass man in vergleichsweise kurzer Zeit vergleichsweise viel vor hat und dafür drölf verschiedene Taschen organisiert. Eine Bade-Tasche für die bräsigen Tage am See, eine Wander- und Outdoor-Active-Tasche für die supersportiven Tage zwischen Höhenmetern und Langstrecken, eine Urban-Chic-Tasche für die lässigen Stadtbesichtigungstrips sowie die Gemütlichkeitstasche für auch einfach mal nur in der FeWo rumhängen. Solcherart bebündelt fährt man los, das Auto krümmt sich unter der Last des Gepäcks, die Seele unter der des Erwartungsdrucks, und noch bevor man am Zielort angekommen ist – ein Idyll aus duftenden Wiesen, hölzernen Prachtbauten und Geranienwolken – perlt die erste Träne gestressten Schweißes von der angespannten Stirne, und steigt man aus dem Auto, so ist das Türenschlagen sogleich Startschuss für die Urlaubsarbeit: Man hat so viel zu tun! Die Urlaubsuhr macht ticktackticktack, und ehe du dich’s versiehst ist eine Woche schon vorbei – nicht auszudenken, man hätte bis dahin nicht alles erlebt, was man erleben wollte! Nach sieben Tagen sinkt man völlig ermattet auf sein heimisches Bett und lässt sich vom Baustellenlärm sanft in den Schlaf wiegen. Vielleicht doch lieber gleich daheimbleiben – oder einfach sofort wieder losfahren … ? 

Freitag, 25. August 2023

Bauernregeln

 Weil wir öfter schon festgestellt haben, dass sich langsam aber gewiss die sichere Bank aller Verzweifelten, Schüchternen und Uninspirierten vom Stützbalken sozialer Interaktion (vgl. Smalltalk, der) zu einem Tretminenfeld der thematischen Fettnäpfe entwickelt („Buärgs ist das heiß!“ – „Das hast du jetzt von deiner Internetbestellerei!“ / „Fuckey ich krieg echt hart Depression wegen immer Regen.“ – „Tja, Hauptsache schön Schnitzel, ne!“), möchte ich heute eine Lanze brechen für: das Wetter. Später womöglich auch noch für Funktionskleidung, Wasserhosen und die modische Ästhetik von Müllsäcken, aber, ja, also: später. Das Wetter war dem Menschen nie geheuer, weswegen er sich zeitnah einer List bedient und Götter erfunden hat. Das war praktisch, wenngleich betreuungs- und kostenintensiv, weil wie das so üblich ist bei Mächtigen: von nix kommt nix, und wo wir heute mit Boni und Aufsichtsratsposten arbeiten, gab es früher eben Lamm, gelegentlich auch einmal ein kleines Menschlein zur Bestec… Beschwichtigung. Wetter nass: Opfer. Wetter heiß: Opfer. Wetter kalt: Opfer. Wetter irgendwie normal weil gefriert halt im Winter aber passt mir persönlich grad nicht so gut in den Kram: Opfer. Wir sehen: Das wird teuer, und nachdem sich auch der Ablasshandel als von zweifelhaftem meteorologischem Wert erwiesen hat, griff der Mensch blasphemisch-klug zur Naturwissenschaft. Fortan spazierten Frösche in Gläsern an Leitern auf und ab, zeigten Egel, Spinnen, Schwalben eine Richtung an, doch sehnte sich vornehmlich erstgenanntes Amphib weniger nach göttlichem Wirken als vielmehr irdischem: Fliegen. Und spätestens, als der Galli-Mainini-Test erfunden war, der Frosch nunmehr gleichzeitig Wetter vorhersagen sollte und Schwangerschaften auch, kam es in der Folge zu unklaren Handlungen, verwirrenden Aussagen, Burn-Out und Zwangspensionierung (vgl. Kachelmann, Jörg). Während der gelehrte Mensch also seit Jahrtausenden nach Methoden zur Wetterzähmung trachtet, sind andere einfach bauernschlau und leiten fleißig Regeln ab, die nicht nur orakulös verlässlich sind, sondern auch von poetischer Schönheit. Nämlich allgemein: Wenn im September viele Spinnen kriechen, sie einen harten Winter riechen. Oder: Donnert’s im September noch, wird der Schnee um Weihnacht hoch. Sowie konkret: Ist Regine warm und sonnig, bleibt das Wetter lange wonnig. (7.9.), Regnets am Sankt Gorgons Tag, geht dir Ernt‘ verlorn bis auf den Sack. (9.9.). Weil ich nicht gelehrt bin, wohl aber schlau, habe ich im August gesammelt und beantrage hiermit um Ergänzung der offiziellen Bauernregeln um norisspezifische: Schaust du Filme ohne Dache sitzt du meistens in 'ner Lache!, Tropft dir Wasser von der Hose stell dir vor es wäre Soße! und Trinkst du Biere an 'ner Pfütze trägst du dabei besser Mütze! Damit crasht ihr jede Party! Versprochen! 

Freitag, 18. August 2023

Augusturlauber

So ein Urlaub ist schon eine sehr schöne Sache, also zumindest wenn die anderen alle nicht da sind; vgl. August, der – weil der kluge Bayer ja schließlich dann verreist wenn der Rest vom deutschen Pöbel schon wieder in der Schule weilt oder meinethalben auch im Büro, Schreibtisch jedenfalls, und da ist nämlich dann der Rest vom Deutschland erfreulich leer. Freibad – weite Wiesen ganz für sich alleine, wenig Kindergeschrei, dafür hört man den Autolärm auf der Hauptstraße auch gleich viel besser. Hauptstraße auch gleich viel ruhiger, sprich weniger Huperei und Posing mit der Endstufe, dafür so viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten für Baustellen aller Art, das muss man schon auch einmal wertschätzen, dass die Arbeiter da viel entspannter arbeiten können, und dann kommst du heim nach deinem Urlaub und denkst dir „Mei ach schau wie schön, immer noch alles wie vorher“ und saust direkt hinein in so einen spannenden Spätsommerbaustellenstau. Innenstadt leergefegt und somit gleich viel mehr Platz für alle Touristen, eilig mit der Flußkreuzfahrt, noch eiliger mit dem Chinesenbus (auch wenn’s die ja nach wie vor eher heimattreu unterwegs sind) oder herdenweise weißbeinig, aber mit Kappi und Ohrhörern die von Walmart-Reisen oder wie das dann halt heißt im Amerika. Jedenfalls alle die sich’s halt auch einmal anschauen wollen, das schöne Nürni, von dem immer alle reden, und das hat es ja auch verdient, weil der Einheimische selbst sieht ja da jetzt nicht immer überall mehr soo genau hin, und außerdem kann es uns nur recht sein, wenn die Stadt voller vor allem Italiener ist, weil die fehlen denn im Heimatort und nehmen dort nicht den Platz weg auf der Piazza und am Lido und auf der Strada del Sole, alles richtig gemacht also. Und dann kann ich ganz gönnerhaft ergänzen dass es ihnen grad recht bekommt, also den Urlaubstouristen, die Stadt jetzt zu erleben in ihrer olfaktorischen Blüte, diesem ganz besonderen Etwas, das Nürnberg im Hochsommer einzigartig macht und in mir sogleich die dringende Sehnsucht nach einer Fernreise erweckt, nämlich entweder tiefstes Südeuropa oder in den höchsten Norden, genauer: das lappländische Napapiiri, wo seit den 1950er Jahren der Weihnachtsmann wohnt. Weil genau so riecht es hier. Einerseits Sizilien, wo der Müll auf den Straßen verbrennt und die Parks und Wege diesen einzigartigen Geruch aus zu viele Menschen bei zu wenigen Sanitäranlagen ausströmt, ganz zauberhaft. Andererseits die weihnachtliche Geruchsbedrohnung zahlreicher Spezialitätenfabriken, die finden, ihre Produktion im Nürnberger Aushängeschildsegment – und ich mein jetzt nicht die Bratwurst – ausgerechnet in der allgrößten Hundestagehitze richtig anzukurbeln sei eine saugute Idee. Und dann radelst du gemütlich, also gemütlich es halt geht, von A nach B atmest frische Verkehrsluft und vielleicht auch ein bisschen frischen Odl, je nachdem halt wo du grad radelst, und BÄM kommt eine braunsüßklebrige Gewürzwolke und verstopft dir noch die letzte Nasenpore mit Lebkuchengeruch … Ich glaub ich muss auch in den Urli. Mal gucken wo noch Platz ist.

Freitag, 11. August 2023

Wandern oder Spaziergang?

Wie immer nimmt mich die Beschäftigung mit den großen Fragen unserer Zeit sehr in Anspruch. So auch dieser Tage, in denen ich in Lammfell gehüllt auf meinem Schaukelstuhl sitze und versuche, mich in einen Kokon einzustricken, um dereinst, nämlich in einem irgendwo weit vorausliegenden Frühling, der auf einen nicht enden wollenden Winter folgt, dem ein viermonatigen Herbst vorausging, als wunderschöner Schmetterling wieder aufzutauchen und euch allen das Hirn mit Zauberhaftigkeit zu vernebeln. So wüsste ich derzeit furchtbar gern, ob sich Seniorinnen und Senioren eigentlich von der Jugend modisch bedroht fühlen, weil sie sich der Farbe Beige beraubt sehen, und ob der Trend bei den Ü70-Jährigen dann ins Leberwurstfarbene gehen wird oder aber ob künftig alle Omis und Opis als Vanilla Girls und Vanilla Boys gemeinsam mit der Enkelgeneration ticktocken. Vielleicht kann mir das mal jemand sagen? Dann hätte ich mehr Zeit, über etwas nachzudenken, das mir schon so lange den Schlaf raubt und ich einfach keine gute Antwort auf diese eine Frage finden will: Was unterscheidet eine Wanderung vom Spaziergang? „DIE EINKEHR!“ hätte ich früher sofort geschrien, aber je älter ich werde, desto mehr Fehler entdecke ich in dieser Antwort. Denn es ist zwar überaus traurig, jedoch sehr wohl möglich, wandern zu gehen ohne am Ende oder zwischendrin eine feine Einkehr zu machen. Umgekehrt ist es ein bisschen peinlich, aber auch sehr wohl möglich, gemütlich um einen winzigkleinen See herumzuspazieren und sich dafür mit einem Mordswirtshausbesuch zu belohnen. Einkehr also kein Kriterium. „Zeit!“ schlug eine Freundin vor, doch auch dagegen muss ich mich erwehren, bin ich doch selbst an guten Lagen durchaus in der Lage, eine Stunde lang einen Berg hinaufzusprinten und an schlechten, zwei Stunden lahme Kreis im Stadtpark zu ziehen. Ergo … Tempo? Nein, abgelehnt, siehe oben. Auch die Kategorie „Klamotten und Schuhwerk“ scheint mir ungeeignet, schließlich ist es durchaus nicht unüblich, beim Bergwandern Menschen zu begegnen, die ganz offensichtlich leichtes Spaziergangsgewand tragen, während andere im vollen Trekking-Ornat durch den Stadtwald heixeln und dabei immer ein bisschen so schauen, als hätten sie Sorge, aus 4km² Grün nie mehr hinauszufinden. Zudem bin ich höchstselbst schon im festen Wanderschuh durch den Park gekreuzt, kann das aber, wenn mir die Bemerkung erlaubt ist, schon aus olfaktorischen Gründen nicht empfehlen. Hochgebirgsprofilsohlen vertragen sich nicht so gut mit dem Hundedings, das hier allenthalben herumliegt. Was macht also den Spaziergang zur Wanderung? „Proviant!“, sagt die Freundin, und ich hätte ihr fast recht gegeben, bis mir einfiel, wie zwei dem Mann und mir verdächtig ähnlich sehende Menschen das Haus gelegentlich zum Spaziergang verlassen, bepackt mit Wechselklamotten, Wasser, Käsebroten und Müsliriegeln weil „man weiß ja nie“ … Ich bitte um Rat!

Freitag, 4. August 2023

DINGDONG!

 Vorhin hat es bei mir geklingelt. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, schließlich lebe ich in einem sehr klingelintensiven Haus, und irgendwo steht geschrieben, dass jeder, der in ein Haus etwas bringen oder darin verrichten muss, möglichst zu der Zeit kommt, in der sich möglichst wenige Menschen darin aufhalten, so dass diejenigen, die sich tagsüber relativ viel darin aufhalten (ich, arbeitend), möglichst oft aufstehen und eine Tür öffnen müssen. Das hat ja auch was Gutes für sich, sitzen ist das neue Rauchen und so komme ich zu meiner kleinen Bewegungseinheit mehrfach pro Stunde. Briefträgerin: klingelt. DHL: klingelt. DPD: klingelt. Anderer Postzustellungsdienstleister: klingelt. Hermes: klingelt, rennt dann aber schnell wieder weg. Hausmeisterdienst: klingelt. „Werbung!“: klingelt. UPS: klingelt nicht, behauptet das aber hinterher …  Ihr seht schon – mir wird’s nicht fad, und weil garantiert immer irgendwer was bestellt hat und dann aber lieber nicht daheim ist, um die Ware in Empfang zu nehmen, klingelt’s bei mir, Ihrem persönlichen Päckchenannahmecenter, noch ein bisschen häufiger. In den spezialseltenen Fälle, in denen ich selbst eine Sendung erwarte, klingelt es: nicht. Man hat am Vortag bereits eine Mail erhalten vom Zustelldienst über eine erfolgreiche Verladung ins Zustellfahrzeug und ergo Lieferung „zwischen 8.15 und 10.30 Uhr“, so wie man am Vorvortag bereits über eine Ankunft der Sendung beim Zustelldienst erhalten hat sowie am Vorvortag eine erfolgte Übergabe der Ware an denselben und so weiter und so fort, man kann also nicht sagen, man wär nicht vorbereitet auf den Erhalt. Am Lieferungstag stellt man sich also den Wecker auf 7 Uhr, denn man hat gelernt, dass es sich bei den Zeitangaben nur um ungefähre handelt. Dann wartet man. Und wartet. Und wartet. Es klingelt! Post für den Nachbarn. Man wartet und wartet und war… es klingelt! „Werbung!“ Es ist mittlerweile 10.15 Uhr, man hat weder geduscht noch gegessen geschweige denn sich auf die Toilette getraut, langsam wird es unangenehm, aber „Ihr Paket befindet sich im Zustellfahrzeug und wird innerhalb der kommenden 15 Minuten bei Ihnen eintreffen. Verfolgen Sie ihre Sendung jetzt live!“ Jetzt (Lifehack für alle): F5, F5, F5 … sitz ich da mit verknoteten Beinen, Fliegenschwärme umkreisen mich, ich habe nichts gegessen, kaum getrunken, aber bitte bitte lass mich das Paket nicht versäumen, kein Mensch weiß, wohin es dann gebracht wird und wann!! … Mit letzter Kraft schleppe ich mich auf die Toilette, denn jetzt habe ich so lange gewartet, es kann gar nicht sein, dass der DHL genau in dem Mom…DINGDONG!! Verdammt! In größter Eile verrichte ich meine Notdurft und sprinte mit aus dem Hosenbund wehendem Klopapier an die Tür, reiße sie auf und PLING erhalte eine Email: „Leider konnten wir Ihr DHL Paket nicht persönlich übergeben. Es wird für Sie in eine Filiale geliefert“ und zwar in die am weitesten entfernte auf der ganzen Welt, wo es dann morgen irgendwann abholbereit ist. 

Freitag, 28. Juli 2023

Kamelseide

 Als ich heute Morgen die Betten aufschüttelte – das Personal befindet sich auf Sommerfrische, guter Ersatz ist derzeit wahnsinnig schwer zu finden – kam mir im schlafvernebelten Gehirn ein wichtiger Gedanke: Kamelseide, dachte ich. Was soll das eigentlich sein? Soweit ich weiß, ist Seide was, das aus Raupenhintern gepresst wird, zu Kokons gedrechselt, anschließend wieder aufgezwirbelt, gewaschen und zu Unterhemden gewalkt wird. Sollte es etwa sein, dass die alten Berber, die ja allerlei aus dem Dung der Tiere anzufertigen wussten oder wissen, eine Möglichkeiten gefunden hatten, aus Kamelen Seide und die dann zu Bettdecken … ? Nein, hab ich den Gedanken dann doch als zu rigoros am frühen Morgen verworfen und mir eine Notiz gemacht, den Mann zu befragen, ob er sich eigentlich ganz sicher sei mit dem Material seiner wichtigen Sommerdecke oder ob wir das ins Reich der Legenden verweisen müssen. Ganz sicher kann man sich allerdings nie sein, die deutsche Sprache produziert da ja immer wieder Unklarheiten hinsichtlich der Herkunft oder des Inhalts vieler Produkte. Zum Beispiel Kuhmilch oder Hafer, ganz egal, wir sind uns weitestgehend einig, dass das so heißt, weil halt Hafer drin oder Kuh, gewissermaßen, Ziegenmilch auch ganz ähnliche Argumentation und Mandelmilch und Bananenmilch eh. Jetzt aber – Katzenmilch? Genau. Hab ich mangels Katze nicht so viel damit zu tun, aber alle Besitzer von süßen Flauschpfoten sollten sich doch vielleicht einmal Gedanken machen. Auch sicher bin ich mir, dass Hirsebrei aus Hirse gemacht wird, im Schokoladenbrei Schokolade wenigstens anteilig verarbeitet worden ist, aber – BABYBREI? Verunsichert mich schon immer wieder ein wenig, zum Glück kauf ich das nicht so oft und bin insofern des Kannibalismus‘ unverdächtig. Aber man ist ja da eh nicht besonders kinderlieb in der Branche, sonst gäbe es ja neben Shampoo gegen Schuppen kaum auch eines gegen Kinder. Apropos Shampoo: Wenn manche „für seidiges Haar“ sind, warum sind dann andere „für trockenes Haar“ oder gar „für fettiges Haar“? Formulierungen, die mich zutiefst verunsichern, denn weder das eine noch das andere möchte ich gerne haben. Und ist dann „Tropical Fruits Shampoo“ für Tropfenfrüchte, gegen sie oder aus ihnen gemacht – und wer möchte denn bitte Obstsalat auf seinen Kopf schmieren? Und dann jetzt diese Bettdecke des Mannes: Ist die aus Kamel, gegen Kamel oder gar, was ich zu glauben gerne geneigt bin und dann auch verstehe, warum sich das uralte Textil überhaupt in unserem Haushalt befindet: FÜR ein Kamel? Mit dieser Erklärung könnte ich leben. Zum Glück ist jetzt Herbst, da kann man sich das Leben einfacher und für ins Bett eine Wärmflasche machen: Wärme rein, Wärme drin, Wärme raus – fertig. 

Freitag, 21. Juli 2023

One music, one love

 Sommerzeit ist Festivalzeit. Seit Wochen schon findet sich die musikaffine Bevölkerung an einschlägigen Orten zusammen, um dort zu schwofen, shuffeln, kopfnicken und headbangen, was das Zeug hält. In vielen Fällen weiß man vorher, was einen erwartet, in anderen nicht und geht grad darum noch viel lieber hin, um lebensbereichernde Entdeckungen zu machen und fortan seine Mitmenschen mit „der einen Band, die so dermaßen alles abgerissen hat“ zu beglücken. Fremde werden zu Freunden, in deren Armen wir singen, grölen, weinen, vielleicht gar die große Liebe entdecken, und um den inklusiven Aspekt nicht außer Acht zu lassen, werden selbst die geruhsamsten Schrebergärten noch mit hartem Techno missioniert – wer weiß, vielleicht entdeckt das Kaffeekränzchen unterm Kirschbaum ja noch eine späte Liebe zu Schranz oder Micky Krause. Alles ist möglich. One Summer, one music – one love! Musik vereint die People, was auch sendungsbewusste Mitbürger wissen und mit missionarischem Fleiß unters Volk zu bringen wissen. Seit ungefähr dem ersten Tag, an dem es uns vergönnt ist, draußen zu sein oder mindestens das Fenster zu öffnen, hat sich mein musikalischer Horizont signifikant erweitert. Dank unzähliger umsichtiger Mitmenschen entdecke ich neue Musik, die jemals zu hören ich nicht zu träumen gewagt habe. Sei’s im Straßenverkehr, wo ich mit vielen anderen Autos und Radlern von A nach B eile, sei’s im Park, wo ich mich von der vielen Eile zu erholen versuche: Immer ist eins zur Stelle, mich mit dem Wohlklang seines exquisiten Musikgeschmacks zu beglücken und mir aus scheppernden bis dröhnenden Lautsprechern zu erhellen und mir die einzig wahre Melodie zu bringen (auch wenn von einer Melodie oftmals nicht viel zu hören, dafür vernehmlich ein Bass heftig eine kleine oder große Box zu sprengen droht). Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken bei all denen, die sich aufopfernd um die Erhaltung und Verbreitung von Kulturgut bemühen, und mein ganz besonderes Merci geht an dieser Stelle an den jungen Mann fortgeschrittenen Alters, der unlängst ein geruhsames öffentliches Tischtennismatch aufsuchte, dort einen Klappstuhl aufstellte, seinen Wanst und sich hinsinken ließ, um sodann in die rechte Armlehne des Stuhls eine feine Dosenware hineinzustellen und in die linke einen Lautsprecher (von mir liebevoll „Brüllwürfel“ genannt), aus dem fortan die besten Hits der 90er ertönten. Saturday night, yeah I like the way you move – das sorgt doch erst für den richtigen Drive beim Ballwechsel. Dadada damm di di dadada da damm! Mein außer Konkurrenz laufender Favorit: Der süße Dachdecker, der neulich bei einer Gegenüberbaustelle aus vollem Hals „1, 2, 3 im Sauseschritt“ gehört, gesungen UND performt hat. Ich hör das jetzt auch immer. One Love! 


Freitag, 14. Juli 2023

Panta rhei - alles zerfließt

 Letztes Wochenende saß ein winziger Zwerg auf meinem Schoß. Nicht irgendein Zwerg, sondern der entzückendste, süßeste und niedlichste ungefähr im ganzen Universum. Während reichlich Schwimmbadwasser aus dem kleinen Zwergenneoprenanzug in meine vormals trockene Shorts diffundierte, hielt er in seiner winzigen Hand mit großer Kraftanstrengung festumklammert ein winziges Eis. Nicht irgendein Eis, sondern das erste und darum weltallerbeste Freibadeis, das ein Zwerg je auf einem Tantenschoß genießen durfte. Entsprechend andächtig wurde geschleckt und mit einer winzigen rosa Zunge homöopathische Portionen Milcheis abgetragen, das zugleich köstlich und erschreckend kalt war, weswegen der Zwerg nach jedem Schlecker innehalten und überlegen musste, ob die Süße die Kälte wirklich wert ist. „Beiß doch einfach mal ab.“ – „Nein. Lecken!“ So ging’s dahin, und während der eine versunken schleckte, wurde die andere zunehmend nervös. Nämlich konnte ich zusehen, wie das Eis sich aus dem erwünschten Zustand „halbgefrorenes“ bei 36 Grad Außentemperatur in den unerwünschten Zustand „Suppe“ verwandelte und mich, die Hose, das Bein in höchstem Maße bedrohte. Ein Unheil konnte nur abgewendet werden, indem ich beherzt das Eis im Ganzen abbiss und das zweite, indem ich dem Zwerg in der selben Sekunde meine gut gefüllte Waffel in die Hand drückte, in deren Endstück sich, Überraschung, ungefähr ein Liter flüssige Schokolade befand. Aber hey – man soll ja viel trinken bei dem Wetter, und das Wetter macht es einem nachgerade leicht, denn: alles fließt. Wahrscheinlich hat Heraklit auch nur seinem Eis hinterhergeweint, als er sein berühmtes und letzte Woche schon zitiertes „panta rhei“ in die Welt setzte. Möglicherweise hat er aber auch einen schönen Käse betrauert, der eben noch als prächtiges Stück auf seinem Teller lag und im nächsten Moment als glänzender See unter der türkischen Sonne gleißte. Vielleicht sprach er auch von seinem Labello, den er in der Tasche als nurmehr das komplette Gewand mit flüssigem Fett durchwirkende Katastrophe fand. Womöglich auch nur vom Schweiß, der ihm die Klamotten an den Leib und die Haare formschön an den Schädel drückte und der in Strömen floss, sobald er sich nur minimal bewegte, von einem Stück Obst, das er nicht sofort nach Kauf verzehrte, sondern noch eine Minute in die Obstschale legte oder vom Asphalt, in den er bei der Kontemplation lustige Muster mit seinen Schlappen presste … Ich weiß es nicht. Mit patschnassem Schritt, der aussah, als würde bei mir noch was ganz anderes unkontrolliert fließen, durchschritt ich stolzen Hauptes den Badeort, an meiner Hand ein schokolierter, klebriger, aber glücklicher Zwerg. So muss das. Das weiß ich!

Freitag, 7. Juli 2023

Ich hab doch 'ne Meise

 „Du hast eine Meise!“ ist ein zärtliches Kompliment, das mir durchaus hier und da schon gemacht worden ist, vor wenigen Stunden aber unversehens Wirklichkeit wurde. Nämlich tat es, als ich gerade im dreibeinigen herabschauenden Hund angekommen meinen Körper mit sanfter Gewalt in die Position des Kindes wuchten wollte, einen großen Schlag. Nachdem ich mich eingehend auf gebrochene Rippen, herausragende Schienbeinknochen oder gerissene Achillessehnen untersucht hatte, war ich besorgt. Eigentlich hatte ich diese Woche schreiben wollen über meinen sehr naturnahen Haushalt, in dem Spinnen vergnügt von der Zimmerecke baumelnd mit mir gemeinsam abends Tagesschau gucken, aus dem Nichts kommend kleine niedliche Schnecken ihre geruhsamen Pfade über den Küchenboden ziehen, Wespen sich so wohlfühlen, dass sie ihr schönes Nest inmitten meines Wohnzimmers erbauen, auch schon einmal eine Raupe sich am Esstischbein verpuppte, Tauben auf dem Fensterbrett vor meinem Schlafzimmer Unzucht treiben und Fruchtfliegen entspannt auf dem Rand des kleinen, gläsernen Pools sitzen, den ich ihnen in der Küche gebaut habe, und mit den Füßlein fröhlich in der Apfelessig-Spüli-Mischung baumeln, die ich ihnen zur Erfrischung gereiche. So viel Natur inmitten der großen Stadt – ich fühle mich grün, klimaneutral und vom erhabenen Nimbus der Weltrettung umwabert. Und auch, dass mein nagelneues Fahrrad dank der Krähen im Baum vor dem Haus nach der ersten Nacht im Freien statt mattschwarz nurmehr weiß-schwarz-gescheckt ist, habe ich mit nur einem winzigkleinen, nachgerade buddhistischen Wutanfall zur Kenntnis genommen. Ommm, panta rhei, alles fließt … Und dann aber dieser Schlag. In Anbetracht meiner aktuellen Wohnsituation, bei der es gut möglich ist, dass ich morgens unversehens von einem über Nacht gewachsenen Gerüst, vor allem aber vor einem darauf stehenden Handwerker begrüßt werde, habe ich als Auslöser erst einmal das nächstliegende angenommen: Ein Ziegel ist vom Dach gefallen, ein Dämmstoffwürfel, ein Werkzeug oder gleich ein ganzer Handwerker. Ich bin auf alles vorbereitet. Nicht vorbereitet war ich hingegen auf die sanft im Baustellenlärm wehende Daunenfeder, die an der Scheibe der Balkontür klebte, und auf das kleine aufgepuschelte blaue Etwas, das mich im Blumentopf erwartete und aus dösbaddeligen Knopfäuglein ängstlich anblickte. „EIN MEISENBABY!“, rief das innere Kind hocherfreut aus. „Nimm es mit rein und tu es in ein Gurkenglas, dann haben wir endlich ein echtes Haustier!!“ Eine formidable Idee, die ich nach reiflicher Überlegung doch besser verwarf und das Vöglein, das nach einem weiteren Zusammenstoß mit der Fensterscheibe schwer schnaufend im Fliegengitter hing, in eine Schachtel tat – von wo aus es eine Stunde später fidel von dannen sauste. Panta rhei, alles fließt. Like ice in the sunshine.

Freitag, 30. Juni 2023

Ich packe meine Badetasche

 

Hach Sommer, so schön mit dir. Morgens verlasse ich beschwingt in leichtem Leinengewand bei herrlichen 27 Grad das Haus, an den Füßen ein Hauch von Nichts, um die Schulter einen kleinen Beutel, in dem ist alles, was ich brauche nebst einem winzigsüßen Bikiniteilchen, einem Handtuch von der Größe eines Bierfilzes, irgendein Hefterl und möglicherweise einer niedlichkleinen Flasche Wasser. Vielleicht – wer weiß das schon, die Ver-haha-heißungen des Sommers sind leicht wie ein Schwalbenschlag und schwer wie Vanilleduftbaum im Augustauto – flattere ich nach den Erledigungen des Tages noch in ein Freibad. Vielleicht aber auch in ein Café, die Bibliothek oder ein stilvolles Abendessen. Ich lasse das ganz offen auf mich zukommen, denn ich bin jung und frei … Ok, so oder so ähnlich ging das mal früher, ungefähr vor 20 Jahren. Heute geht das nicht mehr so, denn heute ist man (ich) alt. Heute steht man morgens auf und hat diese Idee, dass es vielleicht ein guter Tag im Bad sein könnte. Man (ich) beginnt, ein kleines Täschchen nur mit dem Allernötigsten zu packen so wie das halt immer schon funktioniert hat. In das Täschchen mit dem Allernötigsten kommen: eine Picknickdecke 2x2 Meter mit Thermobeschichtung, niemand weiß, wie der Untergrund beschaffen ist, außerdem braucht man eine Unterlage für das erste Handtuch, auf das ich mich dann legen kann, ohne es mit Untergrund zu beschmutzen, sowie ein zweites Handtuch für falls das erste nass ist oder als Kopfkissen. Es kommt hinein das aktuell gelesene Buch sowie ein zweites, falls das erste frühzeitig ausgelesen ist, das hochgeistige Magazin, das man (ich) vor vier Monaten in der Bahnhofsbuchhandlung gekauft und seitdem kaum angerührt habe, sowie mehrere Ausgaben des intellektuellen Titels, den es beim Online-Shopping gratis dazu gab und der sich seitdem unberührt im Wohnzimmer stapelt. Es folgen verschiedene Sonnencremes (Körper, Gesicht, LSF30-50), ein Karten- sowie Tischtennisset falls noch jemand mitkommt und es langweilig wird, zwei große Flaschen Wasser und ein mächtiges Gefäß mit aufgeschnittenem Obst, Gemüse und zwei Käsebroten sowie drei Kühlakkus. Fürderhin eine Kopfbedeckung sowie ein Wechselbadeanzug (die Blase!), Taschentücher (die Nase!) und ein Beutelchen für das Kleinutensil (Schlüssel, Telefon, Geld, Kopfhörer). Zuletzt noch Wechselgewand obenaufgestopft, denn nach dem Freibad ist man bekanntlich schwer verschmutzt, gleißt speckig im Sonnenlicht und möchte damit nicht die schöne Ware versauen. Diese Tasche mit dem Allernötigsten hievt man (ich) dann auf den Fahrradkorb, der sogleich zu zerbersten droht. Also wieder nach oben und große Umverteilung auf Tasche + Rucksack. Wechselschuhe für „später“ vergessen, ein leichtes Jäckchen oder gar eine Hose auch. Verzweiflung macht sich breit. Früher war irgendwie einfacher.

 

Freitag, 23. Juni 2023

Sirup-Omi

 

Es gibt da diesen Moment, der in mir offenbar irgendeine Sicherung durchbrennen lässt und mich viel vergessen lässt: Mühe, Schweiß, Tränen, Zorn – alles fortgeblasen. Dieser Moment wird davon eingeleitet, dass ich einem Gegenüber (Geburtstagskind / Schwiegermutter/ Finanzbeamter) zu einem bestimmten Anlass (Geburtstag / Bestechung / Beschwichtigung) ein kleines Fläschchen überreiche. In diesem Fläschchen wabert eine goldgelbe Flüssigkeit, die in medizinischem Kontext womöglich Ekel erregen würde, im gemeinten aber zu größter Freude – zumindest bei Connaisseuren und Connaisseusen uralten Wissens, ewiger Naturgewalt und der Magie alles Seienden. Ich sag dann leger: „Schau, für dich.“ und die Antwort so: „Selbstgemacht?“ und ich so: [Augenniederschlag, Achselzuck] „Mhmnjoa?“ und dann so: „Aaaaaaaaaaaaaaaaawww!“ Dann durchströmt mich warmes Glück sowie das Wissen: Es hat sich wieder mal alles gelohnt. Und es schwingt für einen kurzen Moment nur mehr ganz zart und leise die ewigste aller Fragen mit: Warum zum Geier freuen sich Menschen so sehr über „Selbstgemachtes“? Gute Menschen, bitteschön! Die schlechten machen Dinge mit Nasenflügeln, Augenbrauen und Mundwinkeln, was vermutlich ein Lächeln darstellen soll, sagen „Ähä … Danke?!“ und lassen das suspekte Elixier eilig verschwinden, während sie sich denken „Wenn ich sowas haben wollert, tät ich’s mir halt kaufen.“ Ich für meinen Teil freue mich, weil in mir ein Kräuterweiblein lebt, das meiner Omi (Gotthabsieselig) frappierend ähnlich sieht. Alljährlich im Frühjahr und Frühsommer, also ziemlich genau jetzt, erwacht die Omi aus einem Nickerchen, reibt sich kurz die Augen, sieht sich ein bisschen um und ruft freudig aus: „NATUR! PRODUZIEREN! JETZT!“ Dann klatscht die Omi in die Hände und versetzt mich in emsige Betriebsamkeit, denn es bleiben nur wenige Tage, in denen die Natur uns die köstlichsten Dinge schenkt, die es zu verarbeiten und konservieren gilt. Alsbald kann der aufmerksame Beobachter eine Dame mittleren Alters (mich) durch Parkanlagen, Wälder und Verkehrsinseln streifen sehen, die beispielsweise nach duftenden weißen Dolden Ausschau hält, um sie daheim mit Wasser, Zucker und Feenstaub zu mischen und in köstlichen Sirup zu verwandeln. Oder Erdbeeren in Marmelade, Rhabarber zu Kompott, Johannisbeeren zu Gelee oder oder oder Ach wie kontemplativ! … Einige Zeit später stehe ich rot vor Zorn und Hitzedampf in einem küchengroßen Dampfkochtopf und hasse die Welt: Alles klebt, rote Spritzer zieren Boden und Wände, jeder noch so kleine Fingerhut ist ausgekocht und befüllt, doch der Topf wird einfach nicht leer … Irgendwie hat Oma es wie jedes Jahr geschafft, mich zu blenden und diesen Teil der Aktion vor mir geheim zu halten. „Nie wieder!“ schwöre ich – und vergesse alles beim nächsten „Aaaaww!“. Danke, Oma.

Freitag, 16. Juni 2023

Verrücktes Labyrinth

 

Im beliebten Spieleklassiker „Das verrückte Labyrinth“ geht es darum, sich einen Weg durch das Spielfeld zu suchen, indem man Pfad-Plättchen hin und her schiebt. Leider tun Mitspieler das gleiche, weswegen binnen einer Spielrunde ein vermeintlich perfekter Weg gänzlich zerstört sein kann. Mitten in diesem Spiel: ich die inmitten des 3D-gewordenen Labyrinths werkt und wirkt und tagtäglich mit neuen Überraschungen labyrinthischer konfrontiert wird. Statt „finde den grünen Stein“ oder „besiege den dreihörnigen Teufel“ lauten die Aufgaben lebensnah „gehe einkaufen“, „gehe zur Physiotherapie“ oder auch mal „finde nach Hause“. Und wie das so ist im verrückten Labyrinth sind sichere Wege vom Vortag über Nacht plötzlich verschwunden und man steht vor einer neuen Aufgabe, die sicher für irgendwas gut ist. Demenzprophylaxe, Karma-Stärkung, was weiß ich. Ich weiß nur: Alles ist Baustelle, und egal in welche Himmelsrichtung ich mein Haus verlasse – nach 50 Metern ist Schluss und das Pfadfindertum beginnt. Im unmittelbaren Umkreis werden aktuell ein Bürogebäude und vier Wohnhausdächer erneuert, ein ganzer Gebäudekomplex neu erbaut sowie zwei städtische Hauptverkehrsachsen kernsaniert – ein Spielsimulator Deluxe, der sich nicht mit purem Wegebahnverhalten abgibt, sondern die Welt in Teams aus Gegnern und Mitspielern einteilt: Gegner versuchen dich mit Grabesmiene zu zerstören, Mitspieler erkennt man an Kooperationsbereitschaft und Lächeln. Beispielaufgabe „Einkaufen“: Das Radl trägt dich in die ausgewiesene Richtung, doch wo du gestern noch froh warst über die umfahrene Großbaustelle, lotst dich das Umleitungsschild pfeilgrad in einen Abgrund aus abgetragenem Straßenbelag und klebrigem Schwarz, das dir die Reifen zu vulkanisieren droht. Du springst ab, schiebst mutig unter röhrenden Baggern hindurch, um vergnügt die nächste Straße zu überqueren, doch dort findest du dich statt wie gewohnt auf einer rettenden Mittelinsel mitten auf der nurmehr zweispurige Schlangenlinien beschreibenden Straße wieder. Du weißt nicht, was du den vorbeirasenden Autos opfern sollst: Kopf oder Hintern? Beispiel „Parkbesuch“: Du verlässt das Haus mit einer Vollbremsung, denn da wo gestern noch ein Radweg war, prügeln sich heute Autofahrer durch den Stau. Du machst auf dem Absatz kehrt, balancierst am Rande eines neuen Abgrundes, schlängelst dich zwischen Mülleimern, eRollern und Rollatoren verbotenerweise über den Gehweg. Die Chancen stehen 50:50, dass du in der folgenden Baustellenunterführung von einer renitenten Oma vom Rad gewreselt wirst oder man dir lächelnd Durchfahrt gewährt. Bei der Aufgabe „Heimreise“: Du steuerst zuversichtlich die Straßenüberquerung an und landest pfeilgrad in einer Wand aus Absperrbaken, die da gestern garantiert nicht waren. Du setzt dich hin und wein… lachst. Wer lacht, gewinnt!

Freitag, 9. Juni 2023

Morgen goods wedder

 

Gestern ist etwas Dramatisches passiert: Ich wurde einfach so, ratzifatzi nonchalant im Vorbeigehen einer der Säulen meines Lebens beraubt. Entsprechend bin ich markerschüttert, und weil ich aufgrund erzkatholischer Erziehung nächstenliebend an die anderen denke, möchte ich diese Erschütterung directement mit euch teilen. „Ich hab gelesen das mit dem Aufessen und dem schönen Wetter stimmt überhaupt nicht“ lautete ein tiefsinniger Wortbeitrag in geselliger Runde. Ich, ebenso tiefsinnig: „Nicht. Haha. Soso.“ Weil es ist freilich ein Schmarrn. Seit Kindesbeinen an hab ich gelernt: Iss schön auf, sonst wird morgen das Wetter schlecht. Schlechtes Wetter?! Kann keiner wollen, vor allem kann niemand dran schuld sein wollen, und schon gleich dreimal nicht dann, wenn man grad zu einer mehrtägigen Ferienreise in El Paradiso angekommen ist, dem parkähnlichen Blumen-, Wiesen- und Gemüsefeld der Großeltern, dessen Adventure Score auf fröhlichen 100 Prozent leuchtete und damit im direkten Vergleich mit dem Hausinneren trotz zahlreicher Räume voller potenzieller Abenteuer und Geheimnisse und Dasgehtdichnichtsans schwer vorne lag (außerdem gab es in diesem Innen nur einen Fernseher namens „NEINERSTABENDS!“). Ergo hab ich aufgegessen, und siehe da: Der Sommer brannte lichterloh und brachte endlose Tage voll Gelato, Chlorgeruch und Freibadpommes (aufgegessen!). Dank dieser oekotrophologischen Frühförderung habe ich zeitig gelernt, ein „satt“-Gefühl mit Bravour zu ignorieren und stattdessen weiterhin aufs Brävste aufzuessen, und als das Wetter begann, keine ganz so dominierende Rolle in meinem Leben zu spielen, übernahmen erst flugs der Geiz („Lieber den Magen verrenkt als dem Wirt was geschenkt.“) und später Weltrettungsfantasien („Das können wir doch jetzt nicht wegschmeißen, komm tu her!“), wofür ich ja dank Überfressungstraining von Kindesbeinen an bestens vorbereitet war, im Hinterkopf immer ein leichtes Gefühl der Schuld, wenn‘s am Tag nach einer verschmähten Garniturtomate dann doch einmal geregnet hat … Und jetzt das: „Das ist irgendwie nur ein Übersetzungsfehler von irgendwo, das heißt irgendwie ganz anders.“ Geschwind befragte ich das mobile Weltwissen, und siehe da: „Die Redensart beruht nämlich auf einer missverstandenen plattdeutschen Formulierung. Im Plattdeutschen lautete diese: ‚Et dien Töller leddig, dann givt dat morgen goods wedder.‘ Daraus wurde im Hochdeutschen dann schnell der Ausdruck ‚Iss deinen Teller leer, dann gibt das morgen gutes Wetter‘. Doch bei dieser Übersetzung unterlief ein Fehler: Denn ‚wedder‘ heißt gar nicht ‚Wetter‘, sondern ‚wieder‘. Eigentlich müsste es also korrekt heißen: ‚Iss deinen Teller leer, dann gibt das auch morgen wieder etwas Gutes.‘“ In diesem Sinne wünsche ich gesegneten Appetit. Und wenn’s doch mal regnet: Das wünschen wir uns doch heutzutage alle.

Rock im Park für Alte

 

Pfingsten 2023: „Mädels, ihr seht aus wie Rock im Park, nur halt für Alte!“ Jemand hatte Geburtstag, und man tat, was man tun musste: Man verbrachte diesen auf einem Weingut am Main. Was erstmal klingt nach Wildromantik, Abenden in weinumrankten Pergolen und Einsamkeit stellte sich heraus als Ansammlung mobiler Reihenhäuser, die in Reih und Glied Satellitenschüssel an Satellitenschüssel mir die Sicht auf das die Sicht auf den Sonnenuntergang versperrende Windrad versperrten, derweil mir mainfränkischer Sandboden in die Nase wehte: „Wir haben unseren Stellplatz erst kürzlich erweitert und müssen noch Kleinigkeiten anpassen“ rief der Winzer fröhlich und stapfte über frisch zerfurchten Ackerlehm davon, derweil die Mädels – allsamt die 40 weit hinter sich gelassen – fröhlich schnatternd unser gallisches Dorf aus Zelten, Autos und Transportern aufzumischten, um sich für diejenige Unternehmung bereit zu machen, für die die Region berühmt ist: seniorengruppenweise die Weinberge nach Heckenwirtschaften zu durchpflügen und Bacchus zu huldigen, um sich im Anschluss im heimischen Weingut niederzulassen und dort weiter zu huldigen. Mit dabei: die persönliche und aus magentechnischen Gründen sehr abstinente Chronistin = ich. Nach vier Flaschen Wein – pro gewanderten Kilometer eine zur Belohnung – ging’s zur Probe. Der fröhliche Winzer sprach: „Sechs Weiße, drei Rote, zwei Secco, der Rotling und dann halt noch die Schnapskarte!“ Ich hab das dann mal mitnotiert: „1. Hofschoppen: milde Essignote, alkoholisch im Abgang; 12g Restzucker 2. Müller-Thurgau: sauer; 1g Restzucker 3. Roter Traubensaft: intensiver Tabakgeruch, Geschmack mild und marmeladig 4. Bergsecco: riecht nach Alkohol, schmeckt nach Alkohol; Saft drauf - lecker (Gläser werden merklich voller) 5. Rotling: spaltet die Gemüter, große Uneinigkeit; ggfs. ungünstige Kombination mit großer Wurst- und Käse-Platte; „wenn die Wurst dicker ist als das Brot ist egal wie dick der Teufel ist.“ 6. Riesling: keine Reaktion = vereint im Glück. Wein für Fortgeschrittene Trinker laut Chef. Babs gründet „Riesling Ultras“; 7. Muskateller: erneute Uneinigkeit, zu süß oder grade recht? Riecht süß und nach Honig, schmeckt nach Parfum 8. Lieber mehr Riesling 9. Sabine schmeckt alles. 10. Silvaner vergessen, einzelne Teilnehmer sind jedoch sicher dass es Silvaner gab. 11. Gin, Schlehe, Walnuss, Zwetschge – möchte sofort auf Tisch klopfen und Kapsel auf Nase setzen. Nüchtern. 12. Zitat Mangold: “Beim Bier hast am nächsten Tag Kopfweh auf Arbeit, beim Wein hingegen geht's dir gut auch nach drei, vier Flaschen.“ Wird sich zeigen.“ Nach diesem Fanal war die Stimmung blendend, man machte sich auf zum Camp, um dort frenetisch weiterzufeiern. Kurze Zeit fand ich mich inmitten eines Haufens aus Ermattung, Fleecedecken und „Bitte keine Musik jetzt.“ Weinprobe, das Festival des Alters. Keep on Rockin!

Zugspitze

 

Weil die letzte Reise nicht so richtig erzählenswertes hervorgebracht hat, hab ich kurzerhand eine nächste anberaumt. „Wow schau mal, in Garmisch gibt’s ein super Wooden Spa Hotel für Naturelover mit Aromabad und Infinity Pool mit Bergblick auf dem Balkon für nur 1600 Euro für vier Nächte!“ hab ich ausgerufen und dann bescheiden ein kleines Garni Hotel in Österreich gebucht. Nicht ganz am Fuß des Berges, dafür aber an dessen Arsch. Rückseite quasi. Aber ein schöner Rücken kann, wir wissen’s, auch entzücken. War mir eh wurscht, weil ich wollte: Zugspitze, Top of Germany, da muss man ja wohl einmal gewesen sein im Leben. Es war dann erst einmal ein veritables Sauwetter: Daheim räkelten sich Menschen auf Blumenwiesen, ich mich mit Wärmflasche und Decke im Auto, nachdem TOP 1 abgehakt und die Partnachklamm durchschritten war. Sehr nass dort, sag ich euch, aber es hätte schlimmer kommen können, beispielsweise hätt ich der indische (?) Tourist sein können, der mit kurzer Hose, T-Shirt und Flipflops ausgerüstet war und zur letzten Rettung noch einen Schal umgebunden hatte: I love Garmisch! Komisch, so hat er gar nicht ausgeschaut. So hat aber auch eigentlich keiner der superspezialvielen Menschen am Top of Germany ausgeschaut, die sich gedacht haben „Juhu, unten 20 Grad und Sonnenschein, das muss am Gipfel auch so sein!“ Weil Überraschung: War gar nicht so, sondern eher -10 Grad Eissturm. Da in kurzer Hose rumzulaufen – das muss man schon wollen. Ich wollte nicht und hab darum unzähligen Menschen meine Verachtung gezeigt, indem ich ihnen mit meinen im Superbergsteigerrucksack vertäuten Wanderstecken versehentlich ein Auge ausgestochen hab. Upsi. Ob ich hochgelaufen bin? Na also selbstverständlich nicht, aber technisch tun kann ich gut und die Stecken hab ich dann gebraucht, um als anmutige Bergziege den Hügel zur Zugspitzkapelle auf 5m Schneedecke hinauf- und wieder hinab zu schreiten anstatt wie die Sneaker-und-Sommerkleid-Fraktion mir beim Abrutsch den Hax zu brechen. HAHA! Top of Dschörmäni also. Klingt mords wichtig unten, von oben betrachtet eher so: Ja also da wird sich der Österreicher schon auch seinen Teil denken, gell. Kaum hat der Deutsche einen einzigen Schneeberg identifiziert, macht er ein Mordsbohei und vermarktet sich die Finger wund. Und dann oben erkennst du, dass die Zugspitze eher so der Dschörmän Babyberg inmitten lauter gigantischer austrischer Riesen ist, die so a bisserl milde von oben herab lächeln. Stell dir vor, die Ösis würden um jeden Hügel so einen Aufstand machen, dann schwupsdiwups Alpenautobahn, wo kreuz und quer durchs Gebirge hausgroße Gondeln mit lauter kurzhosigen Indern drin herumgekarrt werden – eine Mordsgaudi. Seilbahn: Bin ich gefahren, muss mich aber noch davon erholen. Nächstes Mal lauf ich rauf. Next stop: Weinfranken.

Wenn jemand eine Reise tut

 

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen.“ Was der Dichter Matthias Claudius kann, können Kolumnistinnen schon lange, und so taten zwei Vertreterinnen dieser Zunft neulich gemeinsam eine Reise, „weil vielleicht erleben wir dann irgendwelche tollen Dinge, über die wir schreiben können.“ Um die Wahrscheinlichkeit berichtenswerter Episoden zu erhöhen, wählten sie für diese Reise, die in Wahrheit nur ein winzigkleiner Ausflug ins fränkische Hinterland war, mit großer Sorgfalt einen Tag, der sich laut Wettervorhersage alle meteorologischen Phänomene als Option offenhielt, um sie nach Lust und Laune über die Menschen zu streuen. „Ich fahr jetzt dann los, grade scheint die Sonne und ich schwitz. Wenn es in zehn Minuten schneit oder hagelt, können wir ja wieder umdrehen.“ Gesagt, getan, und so reiste man kurz darauf frohgemut durch einen Nebel aus Starkregen, durch den gelegentlich grellstes Sonnenlicht gleiste und die Reisenden blendete. Bester Start für einen großen Reisebericht. „Ich hab einen leeren Tank, aber bei Shell darf man nicht mehr, gell?“ ließ die Fahrerin die gelbe Muschel an uns vorbeiziehen. „Es kommt aber halt jetzt nichts mehr die nächsten 30 Kilometer“, sprach der Beisitz und erfuhr: „Ist doch egal, dann schieben wir und haben schon was für die Kolumne.“ Entgegen der vollmundigen Ankündigung wurde dann jedoch sowohl getankt als auch für alle anderen etwaigen Notsituationen vorgesorgt. „Ich hab für uns beide ein Wasser dabei wegen der Verdurstungsangst. Meinst das langt oder sollen wir lieber noch einen Kasten kaufen?“ – „Nee, aber lass mal noch zu einem Bäcker fahren und Brezen holen.“ – „Ich hab fei Erdbeerkuchen besorgt.“ – „Sicher ist sicher!“ Bei einer Ausflugsfahrt von geplanten eineinhalb Stunden ins infrastrukturelle Nirgendwo kann Gott weiß was passieren. Am Ziel angekommen („Schau, da läuft echt ein Pfau frei herum!“ – „Wo??“ – „Ach nein, war nur eine Mülltonne …“) wurde erst ein ausgesprochen gerölliger Berg erklommen und dann kreativ im Lehmboden geparkt – große Chancen für eine möglichst stressige Abreise mit Holzbrettern, Abschleppdienst und Tränen. Die Kolumnistinnen liefen einen steilen Abhang hinauf – um die Hüften je drei Jacken (leicht, warm, regenfest), Gebäck und Getränk jonglierend – und ließen sich nach anspruchsvollen 50 Metern auf einer Bank nieder, um sich dort von einer aufregenden Begegnung mit einer winzigen Spinne zu erholen. „Ein Wahnsinnausflug bisher. Was genau willst du da dann erzählen … ?“ – „Ich weiß nicht, aber noch haben wir ja nicht wieder ausgeparkt. Warten wir’s einfach ab.“ Gesagt, getan, und so verflogen die Stunden mit prächtigem Gegacker und der sorgfältigen Abwägung der Themen auf Kolumnentauglichkeit, um am frühen Abend ohne weitere Vorkommnisse wieder in der Stadt zu landen. Hm. Wirklich nix zu erzählen. Aber die Reise war trotzdem schön.

Du-Du-Liste

 

Der Mann und ich haben jetzt eine To-Do-Liste. Auf vielfachen Wunsch einer einzelnen Person nicht etwa in Form einer App oder sonstigem neumodischem Zeugs, sondern schön in Postergröße zentral in der Wohnung montiert. Weil ich dachte, dass es doch viel mehr Anstrengung bedarf, Aufgaben zu ignorieren, die man tagtäglich in schweigender Anklage vor die Nase gehalten bekommt. Leider stellte sich das – naturellement – als großer Irrtum heraus, denn ähnlich der berühmten Kartons, die man drei Monate nach Umzug noch unausgeräumt in der neuen Wohnung stehen hat oder der als Interimslösung gedachten Baustellenlampe ist die mahnende Gestalt der To-Do-Liste in Windeseile aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden und wird in großem Einverständnis geheimhin als Wohnungseinrichtungsbestandteil akzeptiert. Eigentlich habe ich den Eindruck, dass der Mann und ich uns in diebischem Komplizentum darüber freuen, die To-Do-Liste meisterlich zu ignorieren und uns ihrer autoritären Gewalt mit spätpubertärer Anarchie fleißig zu entziehen – was irgendwie gut ist, denn diese kriminelle Energie schweißt uns fest zusammen, obwohl die Liste von mir in schwungvollen Lettern mit „Du-Du-Liste“ überschrieben und damit die Zuständigkeit klar verteilt worden ist, was ja bei konservativer Betrachtung ein gewisses Konfliktpotenzial beherbergen könnte. So aber haben wir das Poster beide als Deko-Objekt verinnerlicht, das aus den gleichen völlig unbekannten Gründen in der Wohnung verbleibt wie beispielsweise die Rücken-fit-Anleitung „In zehn Minuten zum Leben ohne Schmerz“, die seit 2016 (!) an verschiedenen Stellen in der Wohnung deutlichst sichtbar angebracht war, um die „Übungen, die du einfach in deinen Alltag einbauen kannst“ stets vor Augen zu haben, um eben diese Übungen einfach in meinen Alltag einzubauen. Nach sechs Jahren war das Papier brüchig, der Tesa auch, und deshalb segnete das längst verblichene Trainingsmahnmal leider das Zeitliche bei einem weiteren meiner Versuche, es durch Umhängen (Schlafzimmertür -> Schreibtischpinnwand -> Heizkörper -> Kanapee) wieder sichtbar zu machen. Dass Dinge überhaupt auf einer To-Do-Liste stehen müssen, hat einen ganz einfachen Grund: Es sind grässliche Notwendigkeiten, für deren Erfüllung es kein anderes Druckmittel als die eigene Disziplin gibt (im Gegensatz zur sehr aktivierenden Steuer-Anmahnung beispielsweise). In Ausnahmefällen funktioniert Liebesentzug, aber wie lange hält man das schon durch? Witzigerweise aktiviert die To-Do-Liste aber eine andere Disziplin, in der ich ungeschlagene Meisterin bin: die Prokrastination oder, verhaltenstheoretisch: Übersprungshandlung. Statt Kleiderschrank auszumisten habe ich das Gewürzregal sortiert, statt Stromanbieter zu wechseln die komplette Küche entkalkt und statt Sommerschuhe aus dem Keller zu räumen – einfach neue gekauft. Ha!

Reinigungsflug

 

Servus, Grüezi und hallo miteinander, es ist Freitag, der 94. Februar (an dieser Stelle geht mein verbindlichster Dank raus an eine aufmerksame Leserin, die mich gefragt hat, ob es sich hierbei um Parodie handle oder mir ein Fehler unterlaufen sei. Kein Fehler, ich hab grad extra nochmal nachgezählt) und wir haben gefälligst überbordend gute Laune, weil es gab jetzt schon zweimal 48 Stunden Frühling, in die wir alles hineinpressen konnten, worauf wir seit Wochen hufescharrend warten: Angrillen, Anradeln, Anwandern, Anzapfen, Ankontemplieren und Ankopul… Naja. Manche von uns haben womöglich auch die Gelegenheit für die schönste aller Frühlingsbeschäftigungen genutzt, nämlich das Anfensterputzen oder Anautowaschanlagenbesuchen und sich hier und da vielleicht über kleine bis mittelgroße, warmbraune Batzerl gewundert, die mal vereinzelt, mal in größerer Häufung auftauchen und sich einer jeden Reinigung aufs Äußerste widersetzen. „Was mag denn das nur sein?“ denkt ihr euch und verliert euch dann sogleich im Anblick der erwachenden Natur, die blüht und ausschlägt und macht und tut, dass es euch im Herzlein juckt und in der Nase auch, haaaaaaaatschiiii!, doch was kümmert uns das, die Welt ist voller Liebe. „O MEIN GOTT schau mal ein MARIENKÄFER!!“ kreischt man glücklich auf und sieht dem Tierchen verzückt dabei zu, wie es müde vom Winter und schwach in den Beinchen vergebens versucht, die zerknitterten Flügel zu spreizen, tänzeln respektvoll um die ersten Ameisenstraße („Wahnsinn, was die tragen können!“) herum, bevor wir ihnen in wenigen Wochen mit Verve und Backpulver den Garaus machen, klauben behutsam niedlich bepelzte Raupen aus der Nachmittagsschorle, tragen Schnecken über die Straße („Ja wo willst du denn hin, du kleine Maus? Na wahrscheinlich in die andere Richtung, dann haste jetzt Pech gehabt.“) und spüren Schmetterlinge im Bauch beim Anblick erster freilebender Artgenossen. Und zu guter Letzt und allervorderst werden wir bewusstlos vor Glück, sobald wir auch nur einer einzigen Biene ersichtig werden. Denn wir wissen: Bienen sind gut. Bienen machen Honig und retten die Welt, sie stechen nicht oder nur wenn man sie sehr ärgert. Und Bienen sind superschlau. Weil die Bienen so superschlau sind, bleiben sie über den Winter ganz artig und eng aneinandergekuschelt in ihrem Nest und warten im Gegensatz zum depperten Menschen, der Schneeschuhwandern geht und friert, dort auf den Frühling. Ist der da und wärmt das Nest, wachen die Bienen auf und begeben sich schnurstracks auf einen „Reinigungsflug“. Und hierzu lesen wir: „Sie koten [im Bienenstock] jedoch nicht ab, da das zum Beispiel die Übertragung von Krankheiten begünstigen würde. So sammelt jede einzelne Biene ihren Kot über die Monate in einer Kotblase, die bis zu 80% des Hinterleibs ausmachen kann. Im Frühjahr verspüren Honigbienen nun das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern, was im Reinigungsflug umgesetzt wird.“ Süß, gell?