Freitag, 13. Oktober 2023

Kastanientiere

 Normalerweise freut man sich ja nicht so richtig, wenn einem urplötzlich von oben etwas auf den Kopf fällt. Vielerlei ist denkbar, meist ein Vogeldings, gelegentlich mal ein Dachziegel oder wenn alles wirklich sehr schlecht läuft und man ein Gallier ist, kann einem sogar der Himmel auf den Kopf fallen. In meinem Fall aber: Herrliches Aufjauchzen, große Freude, sofortiges auf den Boden Werfen und im Unterholz Herumwühlen auf der Suche nach: einer Kastanie. Diesem handschmeichelnden Stück Natur, dem es Jahr für Jahr allein kraft seiner Existenz gelingt, aus Erwachsenen kleine Kinder zu machen, die jucheissassa den braunen Kugeln hinterherjagen, sie armvoll aufsammeln, tütenweise nach Hause schleppen und den Fund schwungvoll auf den Wohnzimmertisch kippen – wobei der Blick der Außenstehenden frappierend demjenigen ähnelt, den man der Katze zuwirft, die stolz ein Mauserl als Geschenk darbietet. Ich also: „KASTANIE!“ und sogleich: „TIERE BASTELN!“ Ich meine, wozu hab ich denn schließlich endlich ein Kind, das mit mir all die schönen Dinge tun kann, für die andere Erwachsene zu erwachsen sind? „Die beste Lieblingstante bastelt mit dir heute Kastanientiere, mein Schatz!“, sagte ich zum Schatz, der mich mit großen Augen ansah, nickte und nach kurzer Überlegung nach „Tuchen!“ verlangte. „Kuchen kriegst du auch, aber erst wird gebastelt!“, verkündete ich vergnügt und schulterte meinen großen Jutebeutel, in den ich eine ausreichend große Menge Kastanien geschaufelt hatte, um das komplette Sortiment der Arche Noah nebst Ausgestorbenem und Zukünftigem nachzubauen. Unter Einsatz meines Lebens, denn während der öffentliche Raum dank gieriger kleiner Kinderhände von Kastanienabwesenheit nur so glänzte, glänzten die braunen Wunderkugeln in einem benachbarten Grundstück ungeliebt und in großer Anzahl vor sich hin. Eine Tante muss tun, was eine Tante tun muss, und so erleichterte ich die Anwohner kurzerhand um eine Fuhre Gartenabfall und trug sie heimlich aus dem Grundstück. „Tuchen?“ frug das Kind, und ich, streng: „Erst arbeiten!“ und begann das kreative Werk am Esstisch. Zahnstocher und Schaschlikstäbe, Handholzbohrer klein und mittel, Pfeifenputzer, Wackelaugen – was für ein Spaß! „Jetzt Tuchen?“ insistierte der Zwerg, nachdem er artig zwei Zahnstocher in zwei Beinlöcher gesteckt und unartig wieder herausgerissen hatte. „Gleich, ich mach das mal!“ sagte ich … Und wachte nach einer Stunde wieder auf. Um mich herum die Arche Noah und darüberhinausgehendes Fantasiegetier aus Kastanien: glotzende Würmer, kurzhalsige Giraffen, einäugige Kühe – ein herrlicher Anblick. „Ich bin stolz auf … äh … uns?“ wunderte ich mich und entdeckte das Kindlein weit weg von mir auf dem Boden, umgeben von Lego, Hubschraubern und Kuchenkrümeln. Hm. Vielleicht ja nächstes Jahr.

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