Freitag, 29. Dezember 2023

Raclette

Hallo … halloooo … ? Hm, keiner da. Ich scheine irgendwo zwischen den Jahren verlorengegangen zu sein, dieser gallertartigen Nährlösung, in der Menschen dem Vernehmen nach zwischen Weihnachten und Silvester vor sich hin wabern und wie eine Kuhherde alles in den letzten Tagen vertilgte emsig wiederkäuen. Dabei sind sie gefangen in der absoluten Gewissheit, rein kalorisch betrachtet für mindestens eine Woche vorgesorgt zu haben, dem festen Entschluss, es bis Silvester mal ein bisschen langsamer angehen zu lassen und diesem kleinen, aber doch fein nagenden Hungergefühl, das ein über Weihnachten auf Medizinballgröße angeschwollener Magen eben aussendet, wenn er zehn Minuten nichts zu tun bekommen hat. Aber zum Glück naht die Party des Jahres und mit ihr die Planung der nächsten großen Fresserei. Und trotz aller kulinarischen Errungenschaften der letzten Jahre, trotz aller Fernsehsendungen, Restauranteröffnungen, Kochbüchern und Bloggern, die uns die ganze weite Welt der Aromen und Geschmäcker nur so in den Schoß wirft, kehrt der seltsame Mensch zielgerichtet stets zum langweiligsten, uninspirierendsten aller Gerichte zurück: Raclette. Bei dem das einzige, was mir einleuchtet, der anachronistische Gefallen daran ist, als Gruppe um die Feuerstelle zu sitzen und direkt von dieser weg Speisen in sich hinein zu schaufeln (vgl. Grillen, das). Ich, wir ahnen’s schon, hab jetzt von Haus aus nicht so viel zu tun mit Raclette. Wahrscheinlich liegt hier bereits die erste Crux: Während ich mich auf dem mit allerlei Schälchen voller Dosenmais, Formschinken und Einweckzwiebeln vollgestellten Tisch orientiere und mich zu erinnern versuche, wie das alles gleich wieder ging, haben die anderen bereits die Pfännchen turmhoch belegt, es irgendwie geschafft, diese Machwerke des Speisen-Jenga in den winzigkleinen Bratspalt zu basteln und sich die ersten Portionen Käsekartoffeln am besten direkt in den Schlund zu gießen. Üblicherweise verhält es sich dann so, dass erste Ausfallerscheinungen („BURPS!“) zu beklagen sind, während ich schüchtern Reste von Pilzen und Paprika ins Pfannerl drapiere und überlege, welche Komposition wohl die am besten verträgliche sein könnte. Am Ende ist niemand wirklich satt, aber allen superschlecht (außer mir), von Esstischlampe und Frisur tropft kondensiertes Käsefett und die Wohnung nebst aller Anwesenden riecht, als wäre man unversehens ins Febreze-Testlabor des TÜV Rheinland geraten. Beim Schweizer Original wird übrigens auf das pseudogesunde Gemüsebrimborium verzichtet und man schmilzt sich einfach im Akkord ein Pfund Käse auf die Rippen … Ob vom Esstisch aufs Sofa oder in die Partynacht: Rutscht gut rüber! Umarmt das neue Jahr und bittet es, die Umarmung zu erwidern. Und habt am Montag einen Miracle Morning: Strong! Healthy! And full of Energy! 

Freitag, 22. Dezember 2023

Zufällig Weihnachten

An Heilig Abend oder in der Weihnacht ereignen sich rund um den Globus die wahnwitzigsten Dinge. Das Vieh im Stall kann plötzlich sprechen, anderes fliegen. Dicke bärtige Männer turnen auf Dächern herum, Rauschgoldengel erscheinen und jungfräulich gezeugte Kindlein werden geboren … Im vergangenen Jahr ist auch mir eine besonders kuriose Geschichte widerfahren, von der ich heute gerne erzählen möchte. Es war Heilig Vormittag, wir saßen auf gepackten Köfferchen, um for Christmas home zu driven, nämlich zu den Schwiegereltern in bayerisch Sibirien. Diesem Besuch war die lange und höchst komplizierte Planung vorausgegangen, die eine Großfamilie mit allerhand Geschwistern, Stief-, Schwipp- und Patchwork-Verästelungen so mit sich bringt, sowie ein am Vorabend erhaltener Anruf des seit langem gebuchten Hotels („Wasserschaden, leider canceln“) nebst großer Hektik. Doch es kam anders. „Der Papa hat Corona, wir lassen das heute lieber“ sprach’s plötzlich aus dem Telefon, und wir ließen unsere Koffer fallen. Nach einigen Schreckminuten sowie solchen der völligen Orientierungslosigkeit überfiel mich ein so maliziöser wie irrsinnig befreiender Gedanke: „Du“, hab ich zum Mann gesagt, „das hat’s noch nie gegeben: Wir müssen nirgendwo hin, wir müssen nichts vorbereiten, wir bekommen keinen Besuch, haben absolut null Plan und dafür maximale Freiheit. Hopp, wir gehen auf den Christkindlesmarkt, da waren wir noch gar nicht!“ Auf ein Tässchen oder zwei – gesagt, getan, und nach Tässchen eins rief ich glücklich den Bruder an, um uns dort als außerplanmäßige Weihnachtsüberraschung zum Essen anzumelden, was dieser erst schüchtern, dann glaubhaft goutierte. Bei Tässchen zwei trafen wir Freunde, die aus unerfindlichen Gründen einen guten Draht zur Feuerzangenbowle pflegten, so dass nach Tässchen vier oder fünf die Laune blendend und das Glück perfekt war, als auch noch das Christkind kam und jetzt ein tolles Foto mit mir hat. Nach Tässchen dings nebst heißem Slivovitz herrschte Einigkeit darüber, dass ein reinigendes Zwischenbier in der Nebenangastronomie eine ausgezeichnete Idee und es sowieso viel praktischer sei, direkt von der Stadt zum Bruder zu reisen anstatt erst lästig nochmal heim … Später hat es dann geheißen, der Bruder hätte zur Begrüßung etwas sauertöpferisch geguckt, das muss aber ein Missverständnis sein. Der Abend ging lang, vergnügt und unbefangen und läutete die Wasmeier’schen Weihnachtsfestspiele äußerst würdig ein, in deren Verlauf sogar die Tiere sprechen konnten, wenngleich nur die im handgeschnitzten Krippenstall, um den herum Erwachsene auf dem Boden lagen, um mit dem Zwergenkind „Jesus und seine Weihnachtsbagger“ zu spielen … Ich wünsche entspannte und friedvolle Weihnachten, Licht, Wärme, Nachsicht und Geduld – und wenn alles anders kommt: einfach laufen lassen. Frohes Fest!

Freitag, 15. Dezember 2023

Pinnwandfunde

 Letzte Woche habe ich meine Pinnwand aufgeräumt (alles, bloß nicht den Kleiderschrank!) – ein knapp zwei Quadratmeter großes Unvieh, dessen Korkbeschichtung zum Bersten gefüllt ist mit vornehmlich dem Komplettbeweis für meine tief verwurzelte Unfähigkeit, mit der Zeit zu gehen und digitale Notizmöglichkeiten als sinnvolles Hilfsmittel anzuerkennen. Und kleine Erinnerungsstücke wegzuwerfen. Unter uralten Briefmarken und kleinen Kuhglocken, Kopierkarten aus Studienzeiten und Zetteln mit Passwörtern längst verflossener Arbeitgeber, abgebrochenen Kettenanhängern und kleinen Grußkarten, vergessenen Zielen der Persönlichkeitsentwicklung, ausgerissenen Zeitungsfetzen, IBANs, Telefonnummern, Passbildern und bis aufs Äußerste verblassten Niederschriften genialer Ideen für die Kolumne fanden sich auch Dinge, die ich lächelnd zur Kenntnis genommen und an Ort und Stelle belassen habe. Handelt es sich doch hierbei um Zeugnisse der liebenswerten Unfähigkeit anderer Personen. Nämlich die zum Geschenke machen. Nämlich die meiner Familie. „Ich schenk dir einfach Geld, dann kannst du dir davon etwas Schönes gönnen“ ist ein zweimal jährlich (Geburtstag und Weihnachten) wiederkehrend geäußerter Satz, den ich freudig zur Kenntnis nehme und den Wunsch der Schenkenden mindestens so gern erfülle wie die Aufforderung, ein Lieblingswunschessen zu äußern und sich dann zum gemeinsamen Verzehr einzufinden. Ein anderes Mitglied der Familie ist stets so verzweifelt auf der Suche nach Freudebringern, dass es sich seit vielen Jahren mit Verve auf jedes noch so lapidar dahingesagte Begehr stürzt und dieses glücklich und völlig ungeachtet der Jahreszeit in ein Weihnachtsgeschenk ummünzt, was mir im Laufe meines Lebens schon Goldschmuck im Sommer, TV-Anlagen im Herbst oder Wellnesswochenenden zum Jahreswechsel beschert hat („Ich zahl dir das, dann ist das mit dem Weihnachten auch erledigt“). Eine ebenfalls äußerst liebenswürdige Angewohnheit, die leider – ich hab’s versucht – nicht steuerbar ist. Und dann gibt es noch zwei andere Hallodris, die über den Lauf der Jahre die Strategien gewechselt und je nach Alter an den Grad der erwarteten Vernunft angepasst haben. Während ich also bis heute auf mein Geschenk zum 30. Geburtstag warte, das zum damaligen Zeitpunkt „noch nicht ganz fertig war“, haben diese zwei Herzensmenschen in der jüngeren Vergangenheit den Gutschein für sich entdeckt, der sich vom eilig dahingeschriebenen und anschließend mit Küchengummi eingerollten Zettel über daheim mit leeren Tonern auf skurrilem Farbpapier Ausgedrucktes zu zuletzt immerhin offiziellen Schreiben entwickelt hat … Kinobesuch, Alpaka-Tour oder Exitgame – all das hängt an meiner Pinnwand und wartet fröhlich auf Einlösung. Und auf das, was sich dieses Jahr dazugesellen wird. Schönen dritten Advent! 

Freitag, 8. Dezember 2023

Alarmglocken

 Süßer die Glocken nie kliiiiingen, als in der Wahaainachtszeeeeeeit … Ein deutsches Volkslied, das uns seit dem 19. Jahrhundert beschallt und uns mit der Verkündung von Frieden und Freud‘ in Sicherheit wiegen will. In falscher, wohlgemerkt, denn was uns dieses Lied wohlweißlich vorenthält, ist, dass es sich beim süßen Geläut um das schrille Tönen von Alarmglocken handelt und der Gesang der Englein nichts weiter ist, als das anschwellende Kreischen eines formidablen Tinnitus‘. Und wen wundert’s. „Ich möchte am liebsten jeden Tag um 17 Uhr ins Bett gehen und am liebsten bis 17 Uhr dort bleiben“, gestand eine Freundin kürzlich, nachdem ich sie ob ihres anhaltenden Aktionismus gelobt, bewundernde Worte gesprochen und zu zwei Tagen Urlaub „einfach so“ beglückwünscht hatte. Die, fuhr die Freundin fort, habe sie nur genommen, „um alles zu schaffen.“ Was mich eigentlich nicht wundert, wenn ich mich so im Bekannten- und Kollegenkreis umhöre, der nach nur einer Woche Advent bereits schwer ächzt. Adventsessen nebst vegetarischer Alternative müssen ausgerichtet werden und Bäume nachhaltig selbst geschlagen. Man trifft Freunde („jetzt haben wir’s das ganze Jahr nicht geschafft, uns zu sehen!“) und Kollegen („um sich auch mal wieder anders zu sehen als immer nur im Arbeitskontext“), backt mit hochrotem Kopf und militärischer Disziplin Plätzchen und Stollen („die gekauften schmecken einfach nicht“), übt mit dem Nachwuchs Nikolausgedichte („lieber guter Nikolaus, rück mal die Geschenke raus“), durchforstet Hirn, Internet und den 17.  Kunsthandwerkweihnachtsmarkt nach individuellen Geschenken („nur eine kleine Aufmerksamkeit“), sorgt nebenbei für Bewegung an der frischen Luft („das gute UV kommt ja auch durch die Wolken“) und schaut dabei auf dem Smartphone einen schönen Weihnachtsfilm … Weil ich schon bei der Niederschrift dieses Adventskanons erhöhten Blutdruck bekomme, hab ich mir dieses Jahr das beste Vorbild genommen, das man sich denken kann, und versuche, mit der gleichen Entspanntheit, Nonchalance und Selbstliebe durch die Tage zu kommen, wie’s mir vorgelebt wird: Mit zwei Hapsen eine Wurst verschlingen, das gesunde Körnerbrot aber liegenlassen. Plätzchen, Waffeln und Lebkuchen so lange zu naschen, bis mir schlecht oder die Schale weggenommen wird. Nach Bücherlesen verlangen und dann doch lieber ein Puzzle machen. Mich über Schneematsch freuen und glücklich drin rumrühren, ohne an kalte Hände und nasse Füße zu denken. Bei Arbeitsandrohnung dringend und unabdinglich sofort mit den Kuscheltieren schmusen müssen. Treffensanfragen mit einem lapidaren „Nein, ich möchte nicht“ abwehren – und statt Geschenken lieber herzenslautes Lachen zu verteilen. Das klingt dann schon eher wie süße Weihnachtsglocken. Auch wenn der zwergenkleine Lieblingsneffe mehr „Bengelein“ ist als „Engelein“.

Freitag, 1. Dezember 2023

Kidnapping

Der Tag hätte so schön sein können. Draußen Schnee und Sturm aus allen Richtungen, der Himmel  verdrießlich und grau wie die Gesichter der Menschen, ich drinnen und frei von Terminen und dringlichen Aufgaben. Herrlich, dachte ich, der perfekte Tag für einen Ausflug in eine Therme! Müßiggang und kuscheliges Frottee, während der Pöbel in Arbeit und Kita verräumt ist – das mach ich!, und schnürte im Geiste schon mein Bündel aus Buch, Proviant und Faulheit, als sich plötzlich aus dem Nichts der Mann vor mir materialisierte, wild mit den Armen ruderte und das Schlimmste sprach: Ich verspräche seit Jahren, mich um „die Situation“ zu kümmern, die er lange geduldet, doch nunmehr für unerträglich befunden habe. Es sei heute „das perfekte Wetter dafür“ und ich habe ja „ganz offensichtlich eh nichts Besseres zu tun“. Er stünde nun persönlich Wache, damit ich das Haus nicht verließe, bis „das Thema restlos abgehakt“ sei und nein, er wolle jetzt nichts von „deinem Saustall im Keller hören“, da das eine mit dem anderen „rein gar nichts zu tun“ habe. „Du“, drohte der Mann, „mistest jetzt ENDLICH deinen Kleiderschrank aus!“ – „DAS IST KIDNAPPING!“ schrie ich und wälzte mich auf dem Boden, „HILFE!“, doch niemand half. „DAS IST DAS SCHLIMMSTE!“, weinte ich und warf mich ihm zu Füßen, „bitte bitte tu mir das nicht an!“, doch er blieb unerbittlich. „Ich fühl mich plötzlich gar nicht wohl, ich hab so Kopfweh und mir ist auch ein bisschen schlecht“, gestand ich und legte mich eilig ins Bett, doch Herr Gnadenlos ließ sich nicht erweichen … Auf zwölf Kubikmetern Schrank lagere textiler Unrat, von dem ich nicht mal wisse, dass es ihn gäbe, geschweige denn dass ich ihn anzöge. Es sei dem jetzt ein Ende zu bereiten! Zu allem Überdruss muss ich sagen: Er hat ja nicht direkt Unrecht. In meinen Schränken sind keine Klamotten, sondern meine persönliche Altkleidersammlung. Was von außen aussieht wie unendliches Chaos aus zum Bersten gefüllten Schubladen und Regalen mit neben- und hintereinandergestapelten Türmen ist in Wahrheit ein brillant austariertes System höchster Ordnung, thematisch und funktional sortiert. Es gibt da Teile für jeden Anlass (festlich, sportlich, Karneval). Es gibt Teile, die mir passen, solche für den Fall einer spontanen Wiedererschlankung sowie die für den umgekehrten (Not)Fall. Es gibt Stapel für Umzug, Streichen, Gartenarbeit, jedes meteorologisch denkbare Phänomen und Frivoles für den (unwahrscheinlichen) Fall eines journalistischen Rechercheeinsatzes auf einer Fetischparty. Und dann gibt es noch winzige Häufchen aus Klamotten, die ich wirklich und tatsächlich täglich trage – und von denen der herz- und gewissenlose Grobian denkt, sie seien die einzigen Teile mit Aufenthaltsrecht … Oje, jetzt kommt er mich holen! Schönen 1. Advent!