Freitag, 28. Mai 2021

ICD-10 F43.2

 Im Pschyrembel, Standardwerk der Simulanten und Bibel der Hypochonder, finden wir unter der ICD-10-Codierung F43.2 die sogenannte „Anpassungsstörung“. Ich hab das schon mal für euch herausgesucht, damit ihr in den kommenden Tagen beim Hausarzt direkt gleich an der Anmeldung eure Selbstdiagnose durchs Plexiglas krähen könnt, um nicht unnötig den Betrieb aufzuhalten, weil die sind da eh genug beschäftigt („Habter net noch was vom Jason?“ – „Nein, Frau Haberschmidt, leider nicht. Aber wie angeboten können wir Sie jederzeit …“ – „Etz gehnsmerner fort mit Ihr‘m Astrasenegal!“). Wenn die Frau Onkel Doktor dann fragt, was los ist, sagt ihr geschwind „sozialerrückzugproblememitnäheverändertessozialverhaltenundvorallemGEFÜHLVONBEDRÄNGNIS!!!“ und dann könnt ihr euch auch noch ein bisschen selbst umarmen und schaukeln und streicheln und sagen, dass schon alles gut wird. Ich zumindest mach das jetzt so seit ein paar Tagen, nämlich seitdem ich versuche, mit je einem Auge eine von zwei sich diametral voneinander weg bewegenden Diagrammkurven zu fixieren und mit dem Ist-Zustand abzugleichen. „Ähm du sag einmal“, hab ich mehrfach in Fernsprechgeräte hineingeforscht, während ich wie seit geschätzt acht Monaten höchst gemütlich unter meinem zur Höhle umfunktionierten Esstisch gelegen hab, von wo aus ich nette Gespräche mit meinen Pflanzen führen kann, die Knubbel an der Raufasertapete einem Mikrozensus unterziehen, dem also wirklich sowas von realistischen Prasseln des Kaminfeuers in UHD-II / 8K lauschen und linguistische Untersuchungen anstellen, wie schnell man das Wort „Grottenolm“ aussprechen muss, bis „Gollum“ draus wird. Weil beiden fühl ich mich sehr nah, und wie der letztgenannte Anti-Held scheint auch meiner Einsiedelei demnächst durch irgendeinen äußeren Zwang ein Ende gesetzt zu werden. „Sag einmal“, also, „neulich hab ich in den Nachrichten was gehört, das hat geklungen wie ‚Eh-Emm‘, ich weiß jetzt nicht ob das vielleicht nur ein Räusperer gewesen hätt sein können oder … Wahrscheinlich nur der Regen an der Fensterscheibe zu laut, meinst du … Aso … Und aber ‚Biergarten‘, ich mein, das muss dann schon sehr viel Krawall außenrum, dass ich das falsch … Ah, ‚wir harrten‘, das klingt schon eher … Wart, ich mach einmal das Feuer leiser. So, also wem harrten wir? … Treffen? Geselligkeit?! KNEIPE??“ und da hab ich schon ein bisschen zum Schwitzen angefangen beim Frieren. Und dann genauer hingehört: Alle Welt plärrt durcheinander, „Öffnung!“ und „Freiheit!“ und „Sommer!“ und … Ich versteh das alles überhaupt nicht. Vielleicht sollt ich aufhören mit dem Kurvenfixieren. Und einfach mit beiden Augen gradaus schauen. Hauptsache nach vorne! 

Freitag, 21. Mai 2021

Wolkenwanderung

 Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte / süße, wohlbek… ach nein so ein Glück, also wenn das der Mörikes Ede wüsste, grad im Grab tät er sich umdrehen und winden vor … ja, doch Vergnügen, nehm ich an, weil endlich hörst du einmal den sanften Harfenton und riechst die süßen Düfte weil jetzt stell dir einmal vor wie’s sonst zugehen tät hier überall: ein Mordsgutelaunefrühsommergetue, dass du’s grad nicht aushältst! Auf jedem Fleckerl Grün ein Grill, schön Rauchschwaden durch die Sandsteinschluchten, hier und da verheddert sich so eine Duftwolke an einem dürren Gestrüpp, huch, denkt sich die Schwade, das war doch da neulich noch nicht, aber ich gewöhn mich lieber erst gar nicht dran, wer weiß, wie lang es da steht in seinem Baumgefängnis auf dem großen Kirchenplatz, und die Schwade wälzt sich schnell weiter durchs Gefilde, nimmt hier einen kleinen Maiskolben mit und dort eine Prise Chlorgeruch, in der nächsten Grünanlage schön einmal durchs Gewürzregal gepudert, bevor die Schwade am Södersee abrupt die Bremse reinhaut, weil der gache Gestank da ist selbst ihr zu viel. Und so eilt sie geschwind und schon rein aus Prinzip zum Knoblauchsland hinaus und nippt hier und da an einem kleinen Liebesapfel oder Zuckerwatte oder vielleicht euch noch an einem Steckerlfisch und dann Bummsfallera und huuuui rüber zu den Burgviertelbalkonen, tupf-tupf von Brüstung zu Brüstung, hier ein bisschen LSF 30, dort ein wenig Pfeife, dazu a bisserl Vanüllje und vielleicht auch schon ein frühes Weizenbier, und dann ist sie dick und bunt, unsere kleine Frühsommerdurftwolke, und lässt sich einfach träge runterfallen purzelpurzel hinab zum Dutzendteich, wo sie sich wie ein dicker lustiger Hund einmal übers exkorporatgeschwängerte Festivalgelände wälzt, um dann später dick und trächtig sich in Stellung zu bringen und fein abzuregnen, ungefähr so wie wenn du einen sehr spezialgroßen Wasserbombenluftballon über eine ganze Stadt halten tätest und dann mit einer spitzen Nadel hineinpieken, und dann macht es so FFFFFLUSCH!!, wo du dann sagst „Mei, schon schön, so ein Sommerregen, und das ist eh mein Lieblingsduft, so hinterher.“ Ach naja. Jetzt tun wir uns mal alle konzentrieren und den kompletten bisherigen Text gemeinsam in den Konjunktiv übersetzen. Weil: Möglichkeitsform. Derzeit genauer: Irrealis. Oder besser: Surrealis. Wenn wir das geschafft haben, tät ich mich vielleicht gern mit meinen geimpften Freunden aus der Seniorenresidenz vor der Stammkneipe treffen und dort im Eissturm ausgangsentsperrt so richtig einen draufmachen. Und nocheinmal nachdenken über den Ede: Frühling lässt die graue Hand / wieder flattern auf der Hüfte / Füße, eingepackt in Düfte / streifen ahnungslos durchs Land … 

Samstag, 15. Mai 2021

Mai Hair Lady

Ich liebe die öffentliche Anteilnahme meiner Leser*innen wirklich sehr, das ist superwichtig weil sonst denkst du nicht nur zwischendurch sondern immerwährend: Jetzt hast du wieder drei Tage den Text der Texte ausgefeilt und wahrscheinlich der einzige der’s liest ist der Fisch der darin eingewickelt wird, hach naja immerhin hoffentlich der hat ein bisschen Spaß, und dann trauriger Blick zu Boden und ach schau, ein Steinderl, kick ich das halt einmal, vielleicht hat wenigstens das mich lieb. So aber: „HAST JETZT DU DEINE FUßNÄGEL DIR SCHON LACKIERT?“ hat eine Dame sich übers ganze Quartier plärrend interessiert und ich hab geantwortet, wie’s halt meine Art ist: schweigend, trauriger Blick zu Boden, dort kein Steinderl, dafür Schuhwerk. Hochgeschlossen, fest verschnürt, ein hohles Lachen war zu hören statt fröhliches Zehengezwitscher. Weil ich sag einmal so: Es ist eine Sache, schön in Ruhe daheim Fingernägel einzufärben in der Couleur der Säsong oder meinethalben mit dem hippsten Muster oder chiquen 3D-Aufbauten, wer meint, kannst eh für dich selbst entscheiden, und dann sagen wir es klingelt und du weißt: Du musst jetzt aufmachen weil vor der Tür steht entweder eine wahnsinnig wichtige Lieferung oder der wahnsinnig charmante Bote derselben, bestenfalls beides zusammen, und dann ist das aber überhaupt kein Problem weil dass Filme aus dem niederpreisigen Erotiksegment ihre Eingangssequenz oft einmal genau so beginnen (sollen, angeblich, was weiß ich): schön Morgenmantel und Wedelfinger und „Ach der Herr Postbote [wedelwedel] täten’s mir das Packerl [wedel] bitte hier hinein…?“, naja, jedenfalls selbst wenn es dann nur ein Werbezettelbringer war oder die Nachbarin, die sagt „Machst du einmal deine Musik wieder leiser bitteschön?“ oder „Tut mir leid aber mein Hund hat grad deinen Fahrradreifen aufgefressen?“, völlig wurscht, es ist nichts verloren. Wenn du aber grad dabei bist, vom Käsemauken die Nägel sommerfrisch zu dekorieren und dann plötzlich klingelt’s und es heißt, du sollst einmal hinunterkommen und eine Unterschrift leisten / Stromkastenzählertür aufsperren / Spinne entfernen und du weil wohlerzogen / autoritätshörig / Helfersyndrom springst auf und schlupfst in deine Schlapfen weil es ist doch noch ziemlich sommerfrisch im Treppenhaus und erfüllst deine Mission und dann oben ziehst du deine Füße wieder aus den Schlapfen und mit ihnen aber auch drei Zentner Filzfusseln weil der Lack war ja noch gar nicht trocken weil das ist er nie und jetzt hat er eine chemische Verbindung eingehen können mit allen Fusseln und Bröseln dieser Welt! So. Das ist mir selbstverständlich nicht passiert. Ich bin ja nicht blöd. Dafür politisch aktiv. Ich schreib jetzt ein feministisches Musical über Sommer und Body Positivity, der Titel lautet „Mai Hair Lady“. Schüss!

Freitag, 7. Mai 2021

Übersprungshandlung

 April, April macht was er will / Der Mai jetzt auch, so ein Lauch! / Erst weht er eisig mit Gefauch / dann wohlig warm auf deinen Bauch / aus den Gärten steigt ein Rauch / und hauch / t dir Sommer in die Nase / durchbricht die Schlechte-Info-Blase / und so schmauch / ich friedlich auf der Wiese / durch die frühlingshafte Brise / Jambusdaktylustrophäus / reimen fröhlich einen Stuss / doch was sich reimt ist immer gut / und auf dem Weber glüht die Glut. „Übersprungshandlung, die: „Verhaltensmuster, die […] keinem unmittelbaren Zweck zu dienen scheinen.“ #stressminderung #wetterbericht #sommergarderobe. „Du kannst die Winterjacke wegräumen“, schrieb die Freundin eben und schickte ein Bildchen hinterher. Seitdem schwitze ich. Präventiv, sozusagen. Weil das mit dem Fatalismus kennt offenbar doch Grenzen. „Sie haben’s ja nicht so mit dem Sommer, wie man liest“, hatte am Vormittag desselben schicksalhaften Tages eine treue Leserin sich zu erkennen gegeben, und ich, entrüstet: Gar nicht wahr, große Hitzeliebe, immer draußen, herrlich, Ermüdungserscheinungen erst im November, schwierig dann Dezember im Bikini, aber sonst, hey, Superwärme, komm nur her! Und später im Eissturm fest in die Winterwindjacke gewickelt lässig: Ach du, meinethalben bleibt das halt jetzt so mit dem Kalt, hat der Sommer uns halt vergessen, was du dir da an Stress sparst, gell! Tja. Da hab ich die Rechnung ohne den Petrus gemacht. „WETTER?!“ muss er gedröhnt haben, „VERGESSEN?? DIR ZEIG ICH EIN VERGESSEN!!“ und sogleich den Ofen angeschürt. Folgende Prophezeiung wurde erlassen: Nach monatelangem Leben als nordbayerischer Inuit gehüllt in Wollsocken, Mikrofleece und Körperbehaarung wirst du eines Tages aufwachen und die Gesterntemperatur singt „Ich war 16“ und die Heutetemperatur antwortet „und ich 31!“ und es ist: Sommer. Und deswegen ist jetzt Maximalstress, weil in zwei Tagen müssen der Schlendrian gestoppt und ich vorbereitet sein. Dunkle Daunenjacken müssen auf Schränke und flatternd-helles Leinen davon heruntergeholt werden, Picknickdecken entstaubt und Ballspiele ausgegraben, 15 Paar luftdichte Winterschuhe gegen 127 Hauche von Nichts mit Riemchen getauscht, und, jetzt kommt das Schlimmste: Der Body muss in Shape gebracht werden! Ja richtig: Das, was die letzten Monate rumgelegen und von vielen Schichten Wärmegewand kaschiert worden ist, und jetzt sollst du völlig unerwartet Haut zeigen und Käsebein womöglich auch und als wär das nicht schlimm genug hat die Freundin mit diabolischem Grinsen den hauchdünnen Faden des Damoklesschwert durchschnitten, das über mir im Sturme schaukelt: „Und das Wichtigste: Fußnägel lackieren!“ HILFE!  

Montag, 3. Mai 2021

Same same but different

 Schönen guten Morgen, es ist Freitag, der … HAHAHA ausgschmiert! Hey hey, ruhig, ganz ruhig, es ist alles gut, ihr habt alles richtig gemacht – also immer vorausgesetzt, euch ist überhaupt was aufgefallen und ihr habt nicht nur müde den Blick auf eine Uhr gerichtet, um zu schauen, ob es 7 Uhr ist oder doch schon 17, Licht wär ungefähr das Gleiche, und wer gefangen ist im ewigen Home, sei’s jetzt mit Office oder ohne, der kann da schon einmal fatalistisch werden. Oder war’s lethargisch? Uno Momento, ich schlag geschwind im Brockhaus nach. „Fatalismus, der: Weltanschauung, der zufolge das Geschehen in Natur und Gesellschaft durch eine höhere Macht oder aufgrund logischer Notwendigkeit vorherbestimmt ist. Aus der Sicht von Fatalisten sind die Fügungen des Schicksals unausweichlich, der Wille des Menschen kann ihnen nichts entgegensetzen.“ Und: „Lethargie, die: Zustand körperlicher und psychischer Trägheit, in dem das Interesse ermüdet ist.“ Jessasmariaundakloansstückerlsjosef – nein, das wollen wir nicht, sondern lieber vergnügt die Teleskopbalancestange ein bis fünf Meter weiter ausfahren und die Turnschläppchen ein bisschen fester ans Hochseil saugnapfen. Tänzel, tänzel, tänzel, schumdidumm! Wegen Fatalismus war der (Dis)Tanz in den Mai also gestern eher von überschaubarer Ausgelassenheit, wegen Fatalismus freu ich mich, dass ich deshalb am Sonntagmorgen um 7 Uhr am Schreibtisch sitzen und ein Sofa zusammenfantasieren kann und dabei aus dem Fenster blicken und Pläne für einen Tag schmieden, an dem es, pardon, arschkalt ist und schnürlverregegnet. Wär ich lethargisch, tät ich mich ins Bett werfen und vielleicht ein bisschen weinen, aber das hat dem Teint dann auch nicht weitergeholfen. „Corona, Corona!“, hat am Freitag fünf Meter hinter mir in der 87 Meter-Supermarktschlange eins gerufen, „Vor lauter Corona hab ich schon selbst Corona obwohl ich überhaupt kein Corona hab!!“, und das hat mir gut gefallen; weil ich kenn mich nicht mehr aus, mach für den Bäcker negative Tests und vereinbare telefonisch, ob ich einen Brief einwerfen darf, erklimme feiertags schweratmend mit dicker Filtermaske Burgberge um oben festzustellen, dass das nur Mo-Fr notwendig ist und zu viert mit meinen Geschwistern auf 200 Quadratmeter Garten zu sitzen offenbar falsch, mit 200 Fremden auf vier Quadratmeter Park aber korrekt und wenn du am Mittwoch verstanden hast, was du am Montag hättest tun sollen, wird es am Dienstag schon falsch gewesen sein. Der Thai hat da seit Langem eine kommunikationskulturelle Lösung gefunden, die wir uns vielleicht (höchst politisch unkorrekt, eh klar) aneignen sollten: Alles ist „Same same, but different.“ Oder wie’s der Landesbürgerphilosophengröhli schon von zehn Jahren vorgeschlagen hat: „Bleibt alles anders.“ Ergo: Montag, Mittwoch, Freiertag?! Schnuppe! Hauptsache gesund!