Donnerstag, 1. Dezember 2022

Torschlusspanik

Hallo lieber Dezember. Schön dass du endlich da bist, wir haben sehr lange auf dich gewartet. Zwar eher ängstlich als sehnsüchtig, aber wen interessieren schon Details. Mich nicht, denn wenn ich mich jetzt auch noch in dezemberigen Detailfragen verlieren würde, läge ich längst kugelrund wie Gott mich schuf in einer schönen Höhle und beglückwünschte mich selbst zu der Idee, das Konzept „Winterschlaf“ nicht mehr nur still zu bewundern, sondern kurzerhand selbst auszuführen. So aber sitz ich kugelrund und dick eingemummelt an meinem Schreibtisch und bedaure mich selbst dafür, ein Sozialleben zu haben. Eine prinzipiell begrüßenswerte Einrichtung, keine Frage, aber im Dezember übertreibt es. Und weil sich das schon seit ungefähr Oktober abzeichnet, bin ich also seitdem etwas angespannt. „Du, wir müssen uns dieses Jahr unbedingt noch sehen!“, „Schaffen wir noch ein Treffen im Dezember?“, „Ich hab Sehnsucht nach dir, das muss dieses Jahr noch klappen!“ sind Nachrichten, die mich sowohl mit Freude als auch wachsender Panik erfüllen. Ich meine: Was passiert da eigentlich? Menschen scheinen eine Art Verabredungsstau auszubilden übers Jahr hinweg. Dann erfasst sie eine Panik, weil anscheinend gibt es so eine Art Treffensgrenze am Jahresende. So wie Urlaubstage: Wer bis 31.12. nicht getroffen ist, verfällt einfach. Insofern finde ich es freilich schmeichelhaft, nicht verfallengelassen zu werden, würde es dennoch begrüßen, vielleicht vom ein oder anderen ausnahmsweise noch ins kommende Jahr mitgenommen zu werden, denn was zum allem Überdru.. nein: Glück ja noch hinzukommt, das sind die dezemberlichen Heimkehrer. Schul-, Sandkasten- und Unifreunde, die man sich im Lauf der Zeit so angesammelt hat und die im Gegensatz zu mir hinausgezogen sind in die weite Welt anstatt in der faden Noris zu versauern. Doch weil du deine Wurzeln nicht verleugnen kannst, kehren die verlorenen Töchter und Söhne im Dezember freilich heim. „Ich bin am 1./2./3./4. Dezember-WE in Nürni, lass unbedingt treffen!“ heißt es dann, und während dein Herz jubelt und hüpft vor Freude, sackt dein Körper nurmehr in sich zusammen, denn man hat ja auch noch Arbeit, Leben, Weihnachtsfeiern und gelegentlich mal einen Schlaf zu bewältigen. Allen gemein ist: Ein Treffpunkt anderswo als auf dem Christkindlesmarkt wird gar nicht erst in Betracht gezogen, und auch das wirft Fragen auf. Denken Menschen wahrhaftig, ich käme nicht von allein in den Genuss des Weltberühmten und sie führen mich dann einmal aus? Oder aber liegt der Gefallen in der Annahme, ich lebte ohnehin Tag und Nacht am Weihnachtsmarkt und man möchte mir möglichst wenig Umstände machen? Beides gibt mir zu denken. Dezember, wir müssen reden! Wegen mir gern auch erst im Januar!

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