Freitag, 18. Mai 2018

Rentiere

Neulich wurde ich zu einem Notfall gerufen. Im wahrsten Sinne aller Worte, schallte es mir doch in Allerherrgottsfrühe panisch entgegen und kommandierte mich zur sofortigen Einleitung intensiver Erste-Hilfe-Maßnahmen ab. Hab ich natürlich alles stehen und liegen gelassen und bin hinfortgeeilt zum Ort, der, wie sich sogleich herausstellte, Tragödie. Alles umsonst, alles zu spät, der Patient war tot. Requiescat in pace, ruhe in Frieden und vor allem in fünf Plastiktüten gehüllt im Kühlschrank. Weil sagen wir mal so: So einen Mordstrummkarpfen, den schmeißt man halt, nachdem man ihn vom Rückenschwimmen befreit und äußerst unwürdig aus dem Wasser gereust hat, dann doch nicht einfach so auf einen Kompost, wenn man nicht vorhatte, Feldstudien an Nagern vorzunehmen, und in eine Mülltonne auch nicht, wenn die erst Tage später geleert wird und sich entsprechend in der Sauhitze in einen Schnellkochtopf verwandelt. Gekröseexplosion, will kein Mensch. Gottlob war das Herrchen, das, so hat es mir mitgeteilt, gerne anonym bleiben möchte, bereits in Kenntnis gesetzt über einen überraschenden Schwächeanfall des goldenen Lieblings, andernfalls hätt man sich überlegen müssen, ob man vielleicht stattdessen ein Brathendl ins Gewässer aussetzt und dann so tut, als hätte man von nichts gewusst. Im Gegensatz zur Loriot’schen Annahme, es befänden sich überall in Kellern Herren im Ruhestand, ist es nämlich in Wahrheit ganz anders. Herren im Ruhestand sitzen nicht mehr brav daheim und lösen Kreuzworträtsel, erringen olympische Fähigkeiten im Gemüseakkuratschneiden, lustwandeln durch selbstgezüchtete Rosenhaine oder platzwarten gar ihr Wohngebiet zu Zucht und Ordnung, nein, Herren im Ruhestand sind erstens dauernd im Freizeitstress und entdecken zweitens ihre späte Liebe zu möglichst behandlungsintensiven Lebewesen. So hat mir eine Dame berichtet vom Hühnerhobby ihres Vaters und wie sie gleichsam gerührt wie verwundert zur Kenntnis nehme, dass wann immer sie das Elternhaus besuche dieses zwar nach und nach verfalle, im Garten aber von Mal zu Mal ein neues Hühnerhaus zu finden sei, das in Design und Architektur seinesgleichen suche. Eine andere Dame rapportiert gelegentlich von der Notwendigkeit des „Taubenwürgens“ in väterlicher Abwesenheit, was irgendeinen ornithologischen Hintergrund hat, vordergründig aber einfach nur absurd ist. Denn eine andere Eigenschaft des tierischen Ruhestands scheint sein zu müssen, dass sich akkurat diejenigen dieses Hobby zulegen, die gern die Hälfte des Jahres mit Reisen ins Ausland verbringen. Und dann steht man da und muss Tauben würgen oder ein gänzlich undurchsichtiges Wirrwarr kilometerlanger Schlauchkonstruktionen, mit denen die Ingeniöre im Unruhestand umeinanderexperimentieren, zu domptieren versuchen. Quo vadis, Modelleisenbahn?  Und wem jetzt die Puste ausgeht, der sucht sich vielleicht für den Montag eine besinnliche Betätigung. Ich tät mich auch für Vermittlerdienste im RenTier-Segment zur Verfügung stellen. 

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