Zu meinem Leidwesen hab ich grade schon wieder überhaupt keine Zeit für euch, ist doch schon wieder ein Notfall eingetreten. Nach der Nahtoderfahrung der vergangenen Woche trifft er mich gottlob nur indirekt, jedoch natürlich mitten hinein ins große Herz: das Kind leidet. Neinnein, keine Teenietrennung, auch kein vorausschauender Schulvermissungsschmerz wegen drohender Sommerferien. Ein anderes Kind. Ein sehr großes, sehr erwachsenes, aber halt für immer zehn Jahre jünger als ich Bleibendes. Es weint, es ruft, hat Todessehnsucht, Weltschmerz, Selbsthass – kurzum: Es schreibt Masterarbeit. „Wie soll man denn bei diesem Wetter am Schreibtisch sitzen?“, hat’s neulich verzweifelt ausgerufen und sich in tiefer Erschütterung gezeigt. „Das, mein Schatz“, hab ich milde gelächelt, „ist die wahre Prüfung. Und Vorbereitung auf die nächsten 50 Jahre. Du hast es so gewollt.“ Genau wissen tu ich’s freilich nicht. Das Kind wahrscheinlich auch nicht. Die erste Erkenntnis, die es grade hat, dürfte wohl die sein, dass „ein Jahr Zeit haben“ vergleichsweise kurz ist, wenn man elf Monate davon lieber Lebenserfahrung sammelt. Mailand, Krakau, Zürich, hier und da kurz in einer Diskothek nach dem Rechten sehen, die ein oder andere Veranstaltung ins Leben rufen, sich ehrenamtlich als Erasmus-Studentinnen-Betreuer engagieren, die Fahrradwege der Region nochmal testen, hätte ja sein können, dass wegen Klimawandel eine Route einer Wanderdüne zum Opfer gefallen ist, gelegentlich wegen Mens sana in corpore sano eine neue Sportart erfinden und andere zum Mitmachen animieren, weggezogene Lieblingsfreunde besuchen und Trost spenden in der Ferne, proaktiv Hilfe in Haus und Garten der Altvorderen ableisten, das Fahrrad putzen wegen Wanderdüne nicht aber überraschend matschig, hier und da mal ein Motorradausflug, gehört ja auch dazu, wenn Besuch kommt, dann muss man sich um den kümmern, das gebietet der Anstand, und spezialwichtig: alles immer schön dekoriert im Insta dokumentieren, damit man später, wenn die entbehrungsreiche Zeit, die einem die Sinne vernebelt und den Verstand geraubt hat, vorbei ist, nicht zurückblicken muss auf ein monatedickes schwarzes Loch, sondern weiß: man hat trotzdem gelebt! Was andere Personen nicht von sich behaupten können, werden die doch je nach Kompetenz, Verfügbar- und vor allem Gutmütigkeit vor den meisterlichen Karren gespannt. Ich will das nicht verteufeln, hab doch ich selbst seinerzeit mein Latinum nur dank einer ausgeklügelten einjährigen Gruppenarbeit erlangt, und ein Uni-Mensch hat mal zu mir gesagt: Das wichtigste, was ihr hier lernt, ist, wer euch hilft und wo ihr nachschauen könnt, wenn ihr wieder mal nix wisst! Neben anderen supplementierenden Aufgaben wird mir die Position des Therapeuten und Motivationscoaches zuteil. Zuletzt, also um genau zu sein vor 18 Minuten, sprach ich deswegen verständnisvoll-gefühlig: „Jetzt hör auf rumzuheulen sondern kneif die Arschbacken zam und mach das Ding endlich fertig! Danach geb ich dir ein Bier aus.“ Was denkt ihr: Kommt das gut an, wenn ich bei der Schlusskorrektur einen diskreten Dank an mich einschmuggle?
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