Menschen tragen in sich einen komplizierten Algorithmus, anhand dessen Berechnung sie entscheiden, in welcher Einheit über bestimmte Zeiträume gesprochen wird. Am besten lässt sich das erklären anhand Eltern von Kleinkindern. Fragt man diese „Wie alt ist denn jetzt der kleine Luzifer-Gordon? Eineinhalb, oder?“ quieken sie laut auf und sagen mit beleidigter Oberlehrermiene „Nein, siebzehnkommafünf Monate.“ Das ziehen sie eine Zeit lang durch, bis es zu einem magischen, von außen unsichtbaren Turning-Point kommt, der es gestattet, in der Einheit „Jahre“ zu rechnen. Ob das auf kalkulatorische Defizite rückschließen lässt oder schlichtweg auf Faulheit, hab ich noch nicht ergründen können, fände es aber angemessen, diese Maßeinheit bis ins hohe Alter durchzuziehen. Wenngleich dann eher, um Verwirrung zu stiften statt Klarheit. Mamapapa, wenn ihr mal wieder nach meinem Alter gefragt werdet, dann sagt doch bitte „Ungefähr 500 Monate.“ Man wählt die Einheit wahrscheinlich irgendwie danach aus, was man mit der Angabe der Zeitspanne erreichen will. „Siebzehnkommafünf Monate hab ich dieses winzige Wesen schon am Leben gehalten“ klingt manchen vielleicht einfach beeindruckender als „eineinhalb Jahre“, außerdem schwingt für den Connaisseur hier eine wichtige Zusatzinformation mit, nämlich in welcher pikanten Entwicklungsphase sich der Nachwuchs grad befindet und warum den Verantwortlichen deswegen derzeit besonders nachsichtig und verständnisvoll begegnet werden muss. „Dreiundzwanzig Monate“ – au weh, Autonomiephase, die Ärmsten! „Fünfhundert Monate“ – allmächt, nicht mehr weit zur Midlife-Crisis! Wenn man sich selbst allerdings beschwichtig, noch fünf Wochen bis zur Abgabe eines wichtigen Projekts zu haben, klingt das unter Umständen weniger bedrohlich als „noch ein guter Monat“, wohingegen „ich bin ein Jahr auf Weltreise“ irgendwie krasser wirkt als „ich bin zwölf Monate unterwegs“ und „Ihr DHL Paket wird gleich zugestellt“ die ultimative Bedrohung darstellt, wie sie es eine konkrete Zeitangabe von „in fünf oder in zehn Minuten“ nie erreichen würde. Es bleibt kompliziert. Im vorliegenden, brandaktuellen Fall möchte ich euch deshalb gerne ein paar Zeiteinheiten vorschlagen, die ihr euch dann auf der Zunge zergehen, im Herzen wiegen und im Kopf durchkalkulieren könnt und dann selbst entscheiden, welche Variante für euch die Angenehmste oder Erschöpfendste sein könnte. Die Einheiten lauten: 43 200 Minuten. 720 Stunden. 30 Tage. Ein Monat. So lange ist noch Zeit, einen Baum zu basteln, Geschenkgutscheine in der Stadt zu schlagen, das Weihnachtsmenü auszuwürfeln und darüber zu streiten, bei wessen Schwiegereltern man lieber welchen Feiertag verbringen möchte. Na, wie fühlt sich das an?
Freitag, 24. November 2023
Freitag, 17. November 2023
No-vember
In verschiedenen Schlaumeier-Beiträgen ist derzeit öfter mal zu lesen, der „November“ hieße, wie er heißt, weil es sich zu irgendwelchen unbekannten Zeiten antiker Herkunft und entsprechend unsinnig erfundenen Kalendarien hierbei mal um den neunten Monat des Jahres einer verwirrten und darum längst vergangenen Zeitrechnung gehandelt habe. Es würde sich also der Name vom lateinischen Wort für „neun“ ableiten, nämlich „novem“, und damit sei dann ja wohl alles geklärt. Ich als Linguistin kann da nur müde lächeln über diese alljährlich erneut verbreitete Mär. Denn schließlich weiß ich’s besser. „No“ ist hinlänglich bekannt als der weltweit verbreitete Laut für „nein“ (vgl. „no, grazie“, „no, merci“ oder „no, sänk you“). „-ember“ ist eine berühmte Endung, die im lateinischen Sprachraum für Monate steht, in denen es irgendwie gemütlich zugehen soll, in Wahrheit aber umso hektischer und verdrießlicher läuft (vgl. Dezember, der), während die Endung „-ar“ Monate kennzeichnet, in denen es saukalt und ungemütlich ist (vgl. Ar-ktis, die). Damit Präfix und Suffix besser über die Lippen rutschen, bedient sich das Deutsche eines sprachlichen Kniffs und hat für sich das sogenannte „Fugenmorphem“ erfunden. Das begegnet uns zwar meist als „s“ (Arbeit-s-zeit, Verband-s-kasten), im vorliegenden Fall ist aber aus ökonomischen Gründen das „v“ entstanden, einfach weil es viel weniger Energie bedarf, um es zu formen, und sich zudem ein „v“ noch mit dem vollsten Lebkuchenmund im Gegensatz zum „s“ garantiert korrekt aussprechen lässt. Nicht zu vergessen: „Nosember“ mag zwar als nominale Hommage an die traditionell kursierende Rotznase gereichen, klingt aber einfach ziemlich bescheuert. Daraus folgt: „No-v-ember“ bedeutet nichts anderes, als dass es sich hierbei um einen widerwärtigen Gruselmonat handelt, dessen Alltage sich durch eine strikte Verweigerungshaltung und Lebensverneinung kennzeichnen: „Möchtest du heute Nachmittag spazierengehen?“ – „NEIN!“, „Gehst du heute Abend mit zum Sport?“ – „NEIN!“ oder „Sollen wir nach der Arbeit noch in die Stadt gehen?“ – „NEIN!“ sind klassische Unterhaltungen des No-vembers. Aber warum? Nun, auch hier kann ich als Absolventin eines Bio-LKs weiterhelfen. Der Mensch ist vom Dings her ja ein Säugetier, und zwar nämlich hier ein mitteleuropäisches. Und was machen alle vernünftigen Säugetiere im Winter? Richtig: Winterschlaf. Dick und fett rollen sich Igel, Bär und Dachs in ihrer Höhle zusammen und ratzen durch, bis die Welt wieder Spaß macht. Nur wer muss da wieder eine Extrawurst braten? Richtig, der Mensch, der anstatt bis März in seiner Sofahöhle zu leben draußen herumspringen muss und irgendwas von „Arbeit“ und „Freizeit“ faseln. Ich mach da nicht mit, schließlich ist No-vember. Ob ich was am Wochenende unternehmen will? NEIN, natürlich nicht!
Freitag, 10. November 2023
Mehr Pepp
„Komm schon Schatz, du musst mal ein bisschen Farbe an dich bringen!“ Was für ein magischer Satz, den eine gute Freundin da unlängst lapidar in meine Richtung warf – und mich damit nachhaltig aus der Bahn. Wir hielten uns in einem Geschäft auf, das ich nie zuvor betreten hatte. Und während die Freundin mit großen Augen ein kreischbuntes Teil nach dem anderen aus den Regalen zog und sich begeistert in die absurdesten psychedelischen Muster und Pullover mit aufgestickten Teekannen und Kuchenbuffets kleidete, blätterte ich mit spitzen Fingern durch die Klamottenreihen und fragte mich, wer in Dreiteufelsnamen derart quietschendes Gewand freiwillig anziehen würde. Ich blickte an mir herunter und fühlte mich ungerecht behandelt: dunkelblauer Mantel, gedeckter Leopardenschal, schwarze Hose, schwarze Schuhe – was sollte daran plötzlich falsch sein? „Nee mal im Ernst, das braucht alles mal bisschen mehr Pepp!“, rief die Freundin und wedelte mit einer stoffgewordenen Katastrophe aus Froschgrün und Pink, um mir sodann eine knallblaue Mütze aufzusetzen, mit der ich ausgezeichnet gut einer Gruppe Erstklässler beim Überqueren einer Straße hätte assistieren können … Seitdem bin ich leicht verunsichert. Mein Kleiderschrank ist mehr als gut bestückt, in der Tat befindet sich auf den Stapeln der Klamotten, die ich wirklich trage, jedoch eine sich wiederholende Farbpalette: freches Weiß, fröhliches Schwarz und lebensbejahendes Grau. In diesem Spektrum gibt es alles vom dicken Winterstrickpullover bis zum leichten Sommerkleidchen, und ich fand bislang, mit dem farblichen Zugeständnis roter Fingernägel sei der Buntheit meiner Outfits Genüge getan. Zumal ich letztes Jahr bereits einen ausgesprochen forschen Schritt in Richtung „Farbe ins Wintergrau“ gemacht und mir eine sehr gelbe Mütze zugelegt habe, die über schwarzem Schal und grauem Mantel vergnügt vor sich hin leuchtet. Und das soll jetzt nicht mehr reichen? „Ich hab beschlossen, es braucht mehr Farbe im Leben“ hatte eine andere Freundin schon vor Wochen verkündet und sich binnen kürzester Zeit von der gedeckten Eleganz, die wir gemeinsam kultiviert haben, verabschiedet und sich in einen strahlenden Paradiesvogel verwandelt, der das Haus nicht mehr verlässt ohne roten Lippenstift. Ich hingegen bin völlig aufgeschmissen und habe Sorge, mich auf der Suche nach dem Pepp in eine stereotype Dame mittleren Alters zu verwandeln, die mit peppigen Klamotten, Frisur und Accessoires versucht, Pepp in ihr Leben zu bringen und vom mittleren Alter abzulenken. Immerhin: Gestern war ich mutig – und habe mir einen strahlblauen Pullover zugelegt, mit dem ich mich schon sehr peppig fühle. Mal sehen, wo die Reise hingeht. Grau ist es ja draußen echt genug.
Freitag, 3. November 2023
Bucklige Verwandtschaft
Die „bucklige Verwandtschaft“ heißt der Legende nach so, weil arme Verwandte früher im Souterrain oder auf dem Dachboden leben mussten. Weil es dort keine geraden Wände gab, führte das zu Körperdeformationen und der geflügelten Buckligkeit. Meine Verwandtschaft ist nicht bucklig. Ganz im Gegenteil schreiten so ziemlich alle der beinahe 25 Angehörigen äußerst stolz durchs Leben, auch wenn bei der ein oder anderen langsam die Beine krumm werden. Aber was macht das schon, so lange der Kopf helle und die Gedanken bunt sind. Was meine Verwandtschaft jedoch eint, ist nicht die Buckligkeit, sondern das Geschrei. Wenn ich jemandem kurz erklären möchte, aus welcher Sippe ich stamme, sage ich oft: Stell dir einfach das Klischee einer süditalienischen Großfamilie vor – nur auf bayerisch, aber mit genau so viel Wein.“ Der Lautstärkepegel stimmt allemal. Ich konnte das jetzt ganz frisch erst wieder überprüfen, denn wir haben uns erstmalig seit dem Ableben des Gründervatis und der Gründermutti wieder getroffen – erstmalig alle zusammen und nicht in übers Land verteilten Häppchen. Ich liebe jeden einzelnen und jede einzelne von ihnen von ganzem Herzen. Aber sagen wir mal so: Am ersten Abend war es bereits soweit, dass ich, die ich ja gemeinhin eher nicht im Verdacht stehe, ein übertrieben feinfühliges Wesen zu sein, sprunghaft den Raum verlassen musste, in dem sich alle zum gemeinsamen Mahl niedergelassen hatten, um nach nebenan zu flüchten, um mich dort in einen Eierkarton zu verkriechen, während sich nebenan riesige Schüsseln mit dampfenden Speisen und Weinflaschen gereicht wurden – und dabei jede Person versuchte, ihrer selbstverständlich wichtigen Botschaft angemessen Gehör zu verschaffen („GIBT ES NOCH WEIN? ICH TÄT NOCH EIN SCHLÜCKCHEN!“). Es begann also ein viertägiges Geschrei. Geschrei bei der Begrüßung („MEINE GÜTE IST DAS TOLL DASS DU GEKOMMEN BIST ICH FREU MICH WAHN-SIN-NIG!“), Geschrei bei jedem Abschied („ABER MORGEN REDEN WIR WEITER!!“). Geschrei beim zu Bett gehen („JETZT SEID EINMAL PST, DIE SCHLAFEN DOCH SCHON!!“), Geschrei beim morgens Aufwachen („MEINST DU WIR MÜSSEN NOCH LEISE SEIN ODER SOLLEN WIR DIE MAL AUFWECKEN?!“). Geschrei beim Frühstück („HAST DU JETZT EINFACH DAS LETZTE HÖRNDL GEGESSEN?“), Geschrei beim Abendessen („DU KANNST DOCH JETZT HIER KEINE BAYERISCHEN TRINKLIEDER SINGEN?“ – „ABER WARUM DENN NICHT, WIR SIND DOCH AUS BAYERN!“), Geschrei den ganzen Tag („ICH MÖCHTE JETZT WEITERGEHEN!“ – „ICH NICHT!“ – „ICH AUCH.“ – „ICH HAB HUNGER!“) … Nach vier wunderschönen Tagen haben wir uns wieder trennen müssen und in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Was bleibt, sind die zärtlichsten Erinnerungen. Und so ein verdächtiges Piepen im rechten Ohr. An der buckligen Verwandtschaft kann’s nicht liegen – aber an der schreierten vielleicht doch.