Freitag, 20. März 2015

Stockentensyndrom

Ich bin prädestiniert fürs Stockholm-Syndrom, ich bin mir ganz sicher. Oder wie nennt man das sonst, wenn man dem Mann, der einen gefoltert und dann wochenlang eingesperrt hat, mit Haut und Haar verfällt, sobald er einen einzigen magischen Satz sagt? In meinem Fall waren das die Worte „Sie können dann jetzt langsam versuchen, ohne die Krücken …“ und mehr hab ich nicht gehört. Mit verklärtem Blick starrte ich ihn an, diesen wunderschönen Doktor – allein, ohne ihn zu sehen, spielten sich doch vor meinem inneren Auge bereits bollywoodeske Szenen ab. Ich gehe, laufe, renne eine Straße mindestens epochalen Ausmaßes entlang, hinter mir die Rotten vernachlässigter Auftraggeber und Zeitungsredakteure, die mich mit Deadlines und Kalendern bewerfen und mir nach dem Leben trachten, und ich laufe und fliehe immer schneller und die Krücken fliegen von mir fort, links und rechts spritzen sie von mir, und ich renne weiter und weiter auf eine Frühlingsblumenwiese, auf ihr warten meine Freunde die Tierchen und Blümchen und ich tanze und tolle und kitze und … 

… finde mich wenig später auf der Brüstung des Business Towers wieder. „Komm, nur einen Schritt!“, lockt der kleine Teufel vor mir, und der Kopf ist willig, doch das Fleisch renitent. Oder: Mein Reptilienhirn halluziniert einen reißenden Abgrund vor mir auf dem Physioboden und lässt sich nicht verarschen, nö nö, denkt es sich, verschränkt die Arme und bleibt einfach stehen. „Ok, dann machen wir das also“, hatte der kleine Teufel gesagt, als ich ihm die frohe Kunde trug von meiner baldigen Erlösung, und ein listiger Schatten huschte über das süße Puppengesicht der Physiosadistin, und ihre Hand schnellte vor und beraubte mich meiner beiden besten, über die vergangenen Wochen so liebgewonnenen Freunde. Das ist jetzt schon ein bisschen her, und wie durch ein Wunder ertappe ich mich neuerdings dabei, fröhlich durch dieses Draußen da zu spazieren.

 Immer schön am Wastl entlang, weil da bin ich unter meinesgleichen, wie sich herausstellt. Außer mir zuppeln da nämlich neuerdings noch ganz viele andere ältere Damen an zwei Stöcken umeinander, und mit jeder weiteren, die mir entgegenwatschelt, wird mein Drang größer und größer, den Stockenten einen verschwörerischen Blick zuzuwerfen, so „Haha, du auch, aber halt in anders, haha lustig.“ Bedauerlicherweise lassen die Stockenten in flottem Schritt und nicht minder flott-coloriertem Lycra diesen feinen Hintersinn vermissen, was zur Folge hat, dass ich mit einem einsamen, weil empfängerlosen Deppengrinsen herumspaziere. Aber wissder was? Des is mir wurscht. Weil: Freiheit, Frühling, Wunderheilung! Vielleicht kann man nachts Schnüre um den Wastl spannen, zum Entenjagen. Da hätt‘ dann zumindest ich auch wieder meinen Spaß. 

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