„Zwischendenjahren“, du liebe Lieblingswinterzeit. Ein ungewisses Gebilde voller Regen und Matsch, Spaziergängen und Pumuckl. Ein leises Aufstoßen nach den emotionalen und lukullischen Orgien der letzten Wochen, die ultimative Konturlosigkeit, in der man sich vor der Welt verstecken und in einem wolkengleichen Zeitkonstrukt ohne jegliche Definition sorgfältig verschwinden konnte, wohl wissend, dass am Ende die große Explosion steht, wohl hoffend, nach dieser voller Energie und Tatendrang wieder aufzutauchen, sich stolz in den Gongschlag der neuen Runde zu stellen und dort ordentlich mit den Ohren im Gegenwind zu flattern. Stattdessen muss ich beobachten, wie dieser weiße Fleck auf der kalendarischen Landkarte neu entdeckt und mit conquestadorischem Eifer besiedelt wird. Aus meinem geliebten „Zwischendenjahren“ werden plötzlich allerorts mit gewichtiger Miene „Raunächte“, was freilich aus Veranstaltersicht ganz prima ist, dauern die doch ungleich länger als das läppische Fleckchen auftragsloser Zeit und man sie entsprechend emsig befüllen kann mit Punschmärkten, Fackelzügen und Schifffahrten. Ich möchte mich der Renaissance des uralten Brauchtums keineswegs verschließen, ganz im Gegenteil begrüße ich es mit offenen Armen, schließlich kultivieren wir seit unzähligen Jahren voller hingebungs- und leidvoller Opferbereitschaft das gute alte „Stärk antrinken“ am 6.1. Auch mit anderen Raunachtsriten kann ich mich gut identifizieren und halte ich strikt an die Vorgabe, als jüngere Frau (moi!) zwischen Weihnachten und Silvester keine Wäsche zu waschen und aufzuhängen, weil sonst ja bekanntlich werweißwas passiert. Nein, es ist allein das Wort, das mich mit seiner Omnipräsenz bedroht: Rau-nächte. Ich möchte nichts Raues, nichts Stachlig-Eisiges mit spitzen Krallen und blutigen Augen, keine Roggenmuhmen und Perchten. Denn ich finde, die hatten dieses Jahr ihren Spaß. Was ich stattdessen will, das sind: Kuschelnächte, die öde Graslandschaften zu flauschigen Kissenwelten werden lassen. Wattenächte, in denen dürre, kahle Hecken flaumige Schmiegsamkeit anbieten. Daunenweichnächte, in denen behutsam Liebe gelacht und Freundschaft gezwitschert wird. Sanftnächte, deren dicke Baumstämme mich streichelnd fest umarmen und mit runzliger Großvaterhaut sagen: Es wird alles gut. Puderpinselnächte, die uns kichernd einladen, Platz zu nehmen und auf sahnigen Wolken davonzutreiben ins Nirgendwohin, ins Ganzweitweg und Dahintenwirdshell. Stattdessen halte ich meinen Teddy fest umklammert und sehe dem Jahr hinterm Vorhang versteckt dabei zu, wie es mit Krawall und Getöse verjagt wird – obwohl es sich, ich ahne es, so gern mit schlechtem Gewissen leise vom Acker gemacht hätte. Schmecke die Luft, die endlich so riecht, wie sie seit Monaten klingt. Ich streichle dem Teddy die Wange: Es wird alles gut. Nehme Anlauf und rutsche hinein ins neue Jahr. Vergnügt, gesund und hoffnungsvoll. Kommt ihr mit?
Freitag, 30. Dezember 2022
Freitag, 23. Dezember 2022
Lichtorgel
Einen wunderschönen guten Morgen zusammen, es ist Freitag, der 13. … Nein halt, Freitag, der 23., und ob das jetzt besser oder schlechter ist, könnt nur ihr selbst beurteilen, je nach Stimmung, Urlaubs- und Festtagsgewandslage. Ich für meinen Teil finde das Datum ganz vorzüglich, bin ich doch im Gegensatz zu vorhergehenden Jahren bereits seit Tagen in ganz besonders vergnüglicher Weihnachtsstimmung. Der Weg dorthin war vergleichsweise einfach, seitdem beispielsweise Freunde und Familie ihr Liebe zum Plätzchen backen entdeckt haben und die zum Teilen gleich mit, was ich nicht nur im christlich-weihnachtlichen Sinne gutheißen kann, sondern in meinem persönlich-aufopfernden ebenfalls, schließlich hilft man gerne und kommt der Aufforderung „Probier mal, geht das so?“ zwar widerstrebend, aber letztlich doch folgsam nach und entdeckt dabei den positiven Nebeneffekt, dass Plätzchen wirklich außerordentlich viel besser schmecken, wenn man a) nicht selbst mehrere Tage mit der Zubereitung verbracht und darob b) nur eine ungefähre Ahnung über die Zutatenliste hat. Noch ein leichtes Nusseckchen gefällig? Aber gerne doch! „Last Christmas“ habe ich mir in diesem Jahr bereits im September auf die Freibad-Playlist gelegt, damit sich Körper und vor allem Geist langsam und behutsam daran gewöhnen können – eine psychologischer Kniff, auf den ich stolz bin und der es mir heute ermöglicht, Gespräche ausschließlich in Textzeilenfragmenten zu führen: „Schönen guten Tag, Meier hier vom Finanzamt Nord.“ – „It’s been a year, it doesn’t surprise me!“ oder „Hast du zufällig vergessen, das Pastawasser zu salzen, Schatz?“ – „Now I know what a fool I’ve been!“ In meiner Wohnung, die zärtlich gestreichelt wird vom besinnlichen Blinken der verrücktgewordenen Glühbirne des Bürokomplexes gegenüber auf der einen Seite, auf der anderen mit schmetternden Buntlichtfanfaren aus den Untiefen der Lichtorgel eines ambitionierten Nachbarn sorgfältig Feierlaune aufzubringen weiß, verbringe ich meine Tage voller Vorfreude im diesjährigen Festtagsgewand, nämlich einer formschönen Jogginghose in Galaschwarz, die ich abwechselnd mit Fleecejacken (Heizung), um den Leib gebundenen Wärmflaschen (Heizung) oder meinem geliebten singenden Rentierpullover (Stimmung) kombiniere, um mich auf die Festtage auch körperlich vorbereiten und verschiedene feierliche Haltungen (sitzen, liegen, lümmeln) einstudieren zu können. In den Pausen produziere ich kunsthandwerkliche Gegenstände, um einerseits mich selbst gestalttherapeutisch zu beschäftigen, andererseits mit den so entstandenen Bastelarbeiten meine Familie mit einer kleinen, gegen alle Absprachen verstoßenden Bescherung zu beschämen. Weihnachten darf wegen mir jetzt kommen – und wegen euch hoffentlich auch. Ich wünsche fröhliche, friedliche Feiertage, ein warmes Herz und warme Füße!
Freitag, 16. Dezember 2022
Nach dem Essen sollst du ruh'n
„Meine Katze wie sie leibte und lebte“ schrieb neulich eine Freundin unter ein Foto. Darauf zu sehen: Ein Fellknödel vom Format mindestens eines durchschnittlich rekordverdächtigen Zuchtkürbisses, aus dessen Enden zwergenhafte Stummelbeinchen ragten sowie ein winzigkleiner Kopf, um dem Betrachter die Orientierung am Tier freundlicherweise zu erleichtern. „LEIBTE!“, hab ich da verliebt ausgerufen, „damit kann ich mich identifizieren! Ich leibe auch ganz besonders erfolgreich zur Zeit!“ Einen Vorteil hat die Fellkugel jedoch vor mir, nämlich einen Pelz, der die Speckrollen sorgfältig kaschiert und die Behauptung unterstreicht, das gewählte Outfit trage nur ein wenig unvorteilhaft auf. Ich habe sowas nicht und muss mir dafür mit zeltgroßen Wolljacken behelfen, die allerdings sagen wir mal so die Agilität und filigrane Eleganz, mit der ich sonst durch die Welt zu schweben pflege, spätestens nach dem gewaltvollen Verschluss des Wintermantels empfindlich einzuschränken pflegt. Fällt mir ein Handschuh auf den Boden, muss ich mit hochrotem Kopf Passanten um Hilfe bitten oder mit gleicher Gesichtsfärbung äußerst peinliche Verrenkungen vollziehen, um das Missgeschick auszubügeln. Jetzt kannst du sagen: Superclever, weil Winter, Eisbär, Isolierung. Oder du stehst da und wunderst dich, schließlich hast du gelernt, dass du nach dem Essen ruhn oder tausend Schritte tun sollst als ausreichende Maßnahme. Ich hab mir da mal ein paar mathematische Gedanken dazu gemacht, die vielleicht als vorweihnachtlicher Erklärungsansatz zum Thema „Explosionsartige Gewichtszunahme in Folge weniger klitzekleiner Adventssünden“ gereichen. 1000 Schritte, das entspricht ungefähr 40 Kalorien und die wiederum dem Gegenwert einer Grapefruit. Rechnen wir kurz einen durchschnittlichen Adventstag durch: Pizza Salami zu Mittag in der Redaktion „weil wir so viel geschafft haben dieses Jahr und Hanne eins ausgibt“: 400 Kalorien. Danach vier Vanillekipferln vom Kollegen „zum Probieren“: 480 Kalorien plus Lebkuchen „Gruß vom Chef“: 425 Kalorien. Später gemeinsamer Besuch mit Freunden auf dem Christkindlesmarkt. Hier traditionell Genuss einer schönen Portion Schaschlik: 450 Kalorien, darauf eine belgische Waffel mit Sahne: 600 Kalorien und den ersten Glühwein: 210 Kalorien sowie darauffolgend direkt einen zweiten, „und zwar mit Schuss bitte“: 260 Kalorien. Es folgen große Fröhlichkeit und unweigerlich ein Hunger auf Bratwurstsemmel: 350 Kalorien, gebrannte Mandeln „aber nur eine Handvoll“: 500 Kalorien sowie drei weitere Glühwein „so jung kommer nimmer zam“: 650 Kalorien und „eine Runde heißer Schnabbes für alle“: unbekannt. Die so leichthin gesammelten 4325 Kalorien können wir problemlos wieder abarbeiten, indem wir am Folgetag 45 000 Schritte tun – was je nach Schrittlänge einer Strecke von 27 bis 36 Kilometern entspricht. So. Ich wünsche besten Appetit. Und einen köstlichen dritten Advent.
Freitag, 9. Dezember 2022
Wunschzettel
„Jetzt müsstest du dann schon langsam mal deinen Wunschzettel schreiben, Kind!“ Magische Worte, die mir Jahr für Jahr der persönliche Startschuss für Advent und Weihnachten waren und gleichwohl der für eine emsige Betriebsamkeit. Weil es selbst in meinem Leben eine Zeit gab, in der ich noch nicht schreiben konnte und Malen zwar schön bunt und außerordentlich fantasievoll gelang, dafür aber rein gar nichts mit „Photorealismus“ zu tun hatte und deswegen größte Verwechslungsgefahren barg („Ich wohohohoolllte doch ein Skaaaaateboahohohooooord!“ – „Oh. Wir, äh, das Christkind dachte, das sei ein Bleistiftspitzer …“), bediente ich mich frühzeitig einer anderen und heute durchaus etablierten Kunstform, die erstens ausgesprochen hübsche Wunschzettel ergab und zweitens an Präzision durch nichts übertroffen werden konnte: die Collage, die ich in hingebungsvoller Kleinstarbeit mit Hilfe von turmhoch in meinem Kinderzimmer aufgestapelten Spielzeugkatalogen erstellte. Und beim Durchblättern praktischerweise bislang unbekannte Wünsche überhaupt erst entwickelte, da man auf der Suche nach der bekannten und pädagogisch wertvollen Welt des geschlechtsneutralen Holzspielzeugs unwillkürlich in die wundervoll rosa glitzernde der Barbies, kleinen Ponys und Polly Pockets stolpert. Fein sorgfältig hab ich also Seite um Seite durchforstet, um mit der kinderrunden Bastelschere ordentlichste Flecken auszuschneiden und damit übrigens eine Kernkompetenz zu schulen, schließlich galt es, so exakt zu schneiden, dass hernach Produkt samt Produktnummer und Preis deutlich zu erkennen waren und das Christkind nachher nicht wieder Ausreden bemühen musste („Ach du meintest das mehrstöckige pinke Barbiehaus? Das tut uns leid, wir waren uns sicher du meinst das kleine blaue Dreirad daneben!“) und dabei aber so platzsparend zu arbeiten, dass möglichst viele Wünsche artikuliert werden konnten. Auf diese Weise setzte ich den Spielzeugkatalog also Seite für Seite auf weißem Papier neu zusammen und verbrachte schöne Basteltage mit Hörspielkassetten … Heute sagt keiner mehr, ich soll Wunschzettel schreiben, nur die Post mahnt die rechtzeitige Aufgabe von Weihnachtsbriefen an, und statt mehrstöckiger Spielzeugkatalogtürme stapeln sich nur die Werbezettel umliegender Supermärkte auf dem Wohnzimmertisch, die durchaus wissen, Begehrlichkeiten zu wecken und Wünsche nach Unsinn (Serviettenringe, Etageren, Sous Vide Sticks, beleuchteter Duschkopf), jedoch auch Fragen aufwerfen. „Alles für Ihr Weihnachtsfest“ verspricht ein beliebter Feinkostdiscounter und zeigt neben Christbaumständern, Goldbesteck und Kuschelkaschmir Wundersames für das Weihnachtsfest: Abdeckfolie, Allzweckvlies, Gewebeband und Malerwalzen – das klingt nach einer verdammt heißen Party. Oder nach irgendwas, wo statt des Christkindes an Heilig Abend die Kripo klingelt.
Donnerstag, 1. Dezember 2022
Torschlusspanik
Hallo lieber Dezember. Schön dass du endlich da bist, wir haben sehr lange auf dich gewartet. Zwar eher ängstlich als sehnsüchtig, aber wen interessieren schon Details. Mich nicht, denn wenn ich mich jetzt auch noch in dezemberigen Detailfragen verlieren würde, läge ich längst kugelrund wie Gott mich schuf in einer schönen Höhle und beglückwünschte mich selbst zu der Idee, das Konzept „Winterschlaf“ nicht mehr nur still zu bewundern, sondern kurzerhand selbst auszuführen. So aber sitz ich kugelrund und dick eingemummelt an meinem Schreibtisch und bedaure mich selbst dafür, ein Sozialleben zu haben. Eine prinzipiell begrüßenswerte Einrichtung, keine Frage, aber im Dezember übertreibt es. Und weil sich das schon seit ungefähr Oktober abzeichnet, bin ich also seitdem etwas angespannt. „Du, wir müssen uns dieses Jahr unbedingt noch sehen!“, „Schaffen wir noch ein Treffen im Dezember?“, „Ich hab Sehnsucht nach dir, das muss dieses Jahr noch klappen!“ sind Nachrichten, die mich sowohl mit Freude als auch wachsender Panik erfüllen. Ich meine: Was passiert da eigentlich? Menschen scheinen eine Art Verabredungsstau auszubilden übers Jahr hinweg. Dann erfasst sie eine Panik, weil anscheinend gibt es so eine Art Treffensgrenze am Jahresende. So wie Urlaubstage: Wer bis 31.12. nicht getroffen ist, verfällt einfach. Insofern finde ich es freilich schmeichelhaft, nicht verfallengelassen zu werden, würde es dennoch begrüßen, vielleicht vom ein oder anderen ausnahmsweise noch ins kommende Jahr mitgenommen zu werden, denn was zum allem Überdru.. nein: Glück ja noch hinzukommt, das sind die dezemberlichen Heimkehrer. Schul-, Sandkasten- und Unifreunde, die man sich im Lauf der Zeit so angesammelt hat und die im Gegensatz zu mir hinausgezogen sind in die weite Welt anstatt in der faden Noris zu versauern. Doch weil du deine Wurzeln nicht verleugnen kannst, kehren die verlorenen Töchter und Söhne im Dezember freilich heim. „Ich bin am 1./2./3./4. Dezember-WE in Nürni, lass unbedingt treffen!“ heißt es dann, und während dein Herz jubelt und hüpft vor Freude, sackt dein Körper nurmehr in sich zusammen, denn man hat ja auch noch Arbeit, Leben, Weihnachtsfeiern und gelegentlich mal einen Schlaf zu bewältigen. Allen gemein ist: Ein Treffpunkt anderswo als auf dem Christkindlesmarkt wird gar nicht erst in Betracht gezogen, und auch das wirft Fragen auf. Denken Menschen wahrhaftig, ich käme nicht von allein in den Genuss des Weltberühmten und sie führen mich dann einmal aus? Oder aber liegt der Gefallen in der Annahme, ich lebte ohnehin Tag und Nacht am Weihnachtsmarkt und man möchte mir möglichst wenig Umstände machen? Beides gibt mir zu denken. Dezember, wir müssen reden! Wegen mir gern auch erst im Januar!