Freitag, 5. Dezember 2014

F43.2

Es ist und bleibt jedes Jahr das gleiche. Ich kann nichts dagegen tun, und wenn ich’s mir recht überlege, bildet sich in letzter Zeit, wohl dem fortschreitenden Alter geschuldet, eine Intensivierung dieser prekären Form des Elends heraus. Ich leide. An einer Anpassungsstörung. Dieser Ausdruck ist wichtig, zeigt er doch, dass es sich um einen Umstand handelt, der schulpsychologisch benannt und anerkannt ist und darob nienichtkeinesfallsvergisses mit einem saloppen „Stell dich mal nicht so an!“ abgetan werden kann. Nach ICD-10, also der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, als „F43.2“ getarnt, ist in der Diagnose zu lesen: „Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalem Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats.” Katastrophales Ausmaß also.

Seit dem 26.10. nämlich, und damit dürfte auch der Zeitraum entsprechend abgedeckt sein, befinden wir uns in der vermaledeiten und in jedem Wortsinne verabscheuungswürdigen Winterzeit. Dessen schmerzlich bewusst wurde ich mir soeben, als ich nach mehrstündiger konzentrierter Schreibarbeit erstmals mein müdes Haupt zu Zwecken der Nackendehnung hob und erst nach links streckte, dann nach rechts, und dort sah ich: Schwärze. Düsternis. Von jetzt auf hopp war Nacht geworden, himmelwiediezeitvergeht, du hast aber auch wirklich genug geschafft heute, sprach ich milde zu mir selbst und begann, das Abendprogramm abzuspulen. Hinein in den Flanellschlafanzug, her mit den Kuschelsocken, Teewasser aufgesetzt und dann schnell ab auf die Couch, vielleicht schaffst du’s ja noch zum Sandmännchen oder wenigstens der Tagesschau. Zu meiner größten Verwunderung fand ich jedoch auch nach mehrmaliger, einer wachsenden Verzweiflung geschuldet gewissenhaftem Durchzappung aller Kabelkanäle weder das eine noch das andere, sondern lediglich schwierige Sendungen, die ein erschlagendes Indiz auf die Uhrzeit gaben.

Nanu?, blickte ich aus dem anderen Fenster, aus dessen Richtung deutliche Schneeschippgeräusche an mein Ohr drangen. Die stellten sich heraus als sehr viele Menschen, die auf einem Gerüst balancierend Putz an Wände anbrachten. Die Erkenntnis traf mich doppelt und gleichsam schwer: Es ist Nachmittag, andere Menschen tun Dinge, schlimmstenfalls solche mit Arbeit, und du Tageslichtlemming bist schon wieder auf die Winterzeit hereingefallen. Da jeder Mensch aber weiß: Ist der Joggers erstmal an, so lässt er sich so leicht nicht wieder entfernen, muss ich jetzt leider quasi unverschuldet auf der Couch verbleiben und mich weiter selbst bemitleiden, anstatt Dinge zu tun wie etwa einen Einkauf oder womöglich das andere böse A-Wort. Aber das gute F-Wort, das schaff ich noch. Feiern!

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