Freitag, 5. Oktober 2018

Hermann ade!

Ihr Lieben, ich bin in Trauer. Ich möchte euch bitten, kurz innezuhalten und mit mir gemeinsam diese schweren Stunden zu verleben, in denen die Sonne so schamlos lacht, derweil mein Herz von dunklen Wolken verhangen ist. „Horst“, so steht es in sorgfältiger Handschrift auf einer Notiz vor mir, „hat es leider nicht überlebt.“ Das ist furchtbar, noch furchtbarer ist, dass zum Beweis des vorzeitigen Ablebens des Geliebten eine leere Hülle, ein Unlebensraum zurückgeblieben ist und mich tagtäglich an diesen furchtbaren Umstand erinnert. Ich hatte mich so gefreut auf Horst, auf seine Kinder, auf unsere gemeinsame Zeit, ich wollte ihn füttern und pflegen und hegen und waschen und ihm aus Gedichtbänden vorlesen. Alles war geplant. Jetzt hab ich mich umsonst vorbereitet, und das reißt ein tiefes Loch in meine Seele. Horst ist, nein: war ein Kefir. Wie ein wunderschön in Formaldehyd eingelegtes Gehirn schwapperte er in seinem Einmachglas, in das die Freundin ihn einquartierte, nachdem sie Horst von einer Freundin geschenkt bekommen hatte, glücklich vor sich hin. Fortan galt es, das Gehirn zu wärmen, mit Zucker und Zeug zu füttern, gelegentlich zu waschen und dabei wichtige Regeln zu befolgen, auf dass der Pilz wachse und gedeihe, dem menschlichen Verzehr sein eigenes Leben opfere und ein neues den vielen Nachkommen schenke. Als ich davon erfuhr, war ich sogleich in heißer Liebe entbrannt. „Das“, rief ich mit herzblinkenden Augen aus, „brauch ich auch! Das ist ja wie der Hermann! Nur für Erwachsene!“ An dieser Stelle darf gerne ein Aufschrei durch die Groß- und Müttergeneration erfolgen. Wir erinnern uns: Eines schönen Tages bringt das Kind eine Tupperware mit nach Hause. Darin eine schwappernde Flüssigkeit, der beim Öffnen des Deckels ein widerwärtiger Schnapsgestank entsteigt. Sogleich möchte man die Dose schließen, versiegeln und verbrennen, mindestens im Sondermüll entsorgen, bekommt diesem Tun jedoch einen Riegel vorgeschoben und vom Kind die Unabdingbarkeit der neuen Lieblingsbeschäftigung beschieden. Fortan lebt und gedeiht in Küchen, Gemächern und Kellerräumen der Hermann, ein Teiggebilde, das es mittels Zugabe von Zucker zu füttern gilt und dem Ausdruck „rührende Umsorgung“ eine ganz neue Bedeutung verleiht. Drohte der Hermann seiner Kinderstube zu entwachsen, teilte man in flugs durch Sieben, verschenkte Teile, verbuk andere und behielt den Urhermann. Kuchen für immer, wie wundervoll! Leider hast du da die Rechnung ohne die Mutter gemacht, die des dauernden Schnapsgestanks überdrüssig irgendwann das Ableben des teigigen Mitbewohners verkündete, weil der versehentlich in den Ausguss gefallen war. Eine schwelende Wunde im Kinderherz seitdem, auf das sich mit dem Horst endlich ein heilendes Pflaster hätte legen können. Aber nein, es war mir nicht vergönnt, und es wird wieder kein Pilz freudig mit dem Myzel winken, wenn ich nach Hause kehre, sondern nur die Fruchtfliegen zur Begrüßung schäbig lachen. Ade! Hat jemand vielleicht noch einen Horst oder Hermann für mich? Dann tät ich den gern nehmen. Nicht dass ich mir noch aus Einsamkeit einen Fußpilz zulegen muss. 

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