Freitag, 24. Januar 2020

Tabuthemen

Mit Tabus ist das so eine Sache. Auf der einen Seite gibt es Dinge oder Handlungen, die sind ganz sehr klar und deutlich und allgemein bekannt und aus sehr nachvollziehbaren Gründen nicht akzeptabel, zum Beispiel seine Notdurft einfach irgendwohin zu verrichten – gut, darüber setzt sich zwar ungefähr die Hälfte der Bevölkerung hinweg, aber ihr wisst schon. Auf der anderen Seite gibt es dann Zeug, da ist klar, das ist jetzt bei uns kein Tabu, zum Beispiel küssen oder Händchen, das kannst du locker machen überall, also halt so lange bis man hingehen möchte und Tipps geben für Hotelzimmer. Und dann ist aber noch so eine Zwischenzone, da wird’s schwammig und neblig und gern einmal wird man geschwind zum Hochseilakrobaten, der eilig übers Dunstgebiet hinwegtänzelt weil man vermutet zwar, das kennen viele, aber wissen tut man‘s nicht genau. Zum Beispiel nicht so gut sagen kann man „Du, mich zerreißt es grad vor unterdrückter Flatulenz, ich kann dir gar nicht so gut zuhören jetzt hier im Arbeitskontext und müsst einmal spazieren gehen.“, sondern man sagt „Möchte noch wer was vom Bäcker?“ Und man sagt nicht „Immer wenn ich mir die Bikinizone rasier krieg ich so einen Mordsausschlag dass alles aus ist und dann eitert und nässt das tagelang.“ Sondern man sagt „Ach Freibad, das gibt mir nichts.“ Und dann aber erst wenn man einmal mutig mit anderen drüber redet, merkt man, dass man gar nicht der einzige Mensch auf der Welt ist der Rücken hat und eingewachsene Zehennägel, der Nirvana immer schon schrecklich fand und frische Brezen auch, und dann ist man ganz erleichtert weil offensichtlich doch kein perverser Mutant. Ungefähr so ähnlich geht’s mir nämlich in letzter Zeit oft wenn es um Radio geht und um Musik und den geheimsten Tipp und die phatteste Playlist und so, und dann hol ich ganz tief Luft und versuch damit spezialviel Mut einzuatmen und eine kleine Stressgänsehaut überzieht mich eilig und dann schwell ich meine Brust und widme mich für Schimpf und Schande, und dann sag ich: „Ich hör saugern einfach Bayern 1.“ Weil das ist ja wohl der grausligste Großelternspießerlangweilergähneinschlafsender den jemals ein Mensch überhaupt gehört hat, überhaupt gar nicht cool sind die da und hip und fancy und phat und geheim erst recht nicht, wer das hört muss mindestens Ü50 sein und Häkeldeckchen Kaffeekränzchen und tu die Füße vom Sofa und um 19.30 ist Dahoam is Dahoam und danach muss ich ins Bett! Unerhört! Doch es vollzieht sich Wundersames. Immer öfter werd ich nicht sofort gesteinigt, sondern es jubelt „Jaaaa!“, jubelt es, „das ist der beste Sender, ich hör den auch ganz oft, da kommt tolles Zeug!“ und dann lacht man kurz verschämt, doch auch erleichtert. Doch kein perverser Mutant. Nur eins ist schwierig: „Der Sender hat sich aber auch voll verändert“, sagte eins, „die waren doch echt uncool früher.“ – „Tja“, hab ich schlau erwidert. „Da stellt dich jetzt aber schon eine andere Frage auch: Ist Bayern 1 wirklich cooler geworden – oder wir halt einfach furchtbar viel uncooler?“ 

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