Freitag, 30. Oktober 2020

Regenbogenpräludium

Auf besagter Schule mit Herz gab es wie es sich gehört natürlich einen veritablen Geheimbund, dessen Mitglieder sich schmerzlich ihrer eigenen Genialität bewusst waren, das nach außen durch eigene Abzeichen, Sprache und Stundenpläne transportierten und den exklusiven Status so verinnerlicht hatten, dass sich die meisten von ihnen bis heute für etwas Besonderes halten – zumindest machen heut stufenübergreifend alle Teilnehmer des nur aus niederen Gründen der Beamtendeutschelei zum „Schulspiel“ degradierten Theatergruppe irgendwas mit Medien. Die Theatergruppe machte Kunst und Kultur im dünkelhaftesten Sinne, fuhr im Gegensatz zum Pöbel auf Probenwochenenden, war vor den jährlichen Aufführungen – ein Ereignis mindestens pausenhofweiter Bedeutung – nur schwarzgewandet in Fluren und danke Spezialsonderausnahmestundenplan niemals mehr im Klassenzimmer zu sehen und zelebrierte in der mit allen zur Verfügung stehenden (und bekannten) Merkmalen der Bohème umfunktionierten Turnhalle irgendwas zwischen Alchemie, Homer und Sybille Berg, angeführt vom von allen inbrünstig vergötterten Lehrer, der an einem Wochenende mehr vermittelt hat als der restliche Lehrkörper an 200 Tagen und klassenübergreifende Bänder schmieden half, die bis heute ungebrochen sind. So wie aber auch das Schultheaterjahr einem Zyklus folgte, war für uns alle eine schwere Depression vorgesehen, ein schwarzes Loch voll Zweifel, Müdigkeit und Verleugnung, voll Tränen und Sinnsuche. Ein Zustand, in den man sich nicht absichtlich und wertherisch begab, sondern in den uns der Vorhang schubste, während er zur Jahresvorstellung letztmals fiel und stehender Applaus uns aus dem Allerheiligsten hinaus in eine graue Welt der Beliebigkeit entließ, die Primi, Primae und Prima inter Pares zurück ins Glied. Eine grauenhafte Zeit, wäre da nicht unser fränkischer John „Storbi“ Keating gewesen, der uns herzlich zur Besinnung brachte: „Des is doch scheiße so! Hobb etz!“ So und nicht anders wird es uns hier auch ergehen. Der rettende Rand der tiefen Grube, in dem die Kulturwelt grade sitzt, scheint fern, doch sehen wir eine rettende Hand durch gleißendes Licht in regennasser Trübnis. Die blonde Gloriole spricht „Ich verspreche Ihnen im Namen aller KulturakteurInnen: Wir machen weiter! Wir werden niemanden alleine lassen. Wir bleiben zusammen.“ Tränen der Erleichterung verschleiern den Blick. In ihnen bricht das Licht der Gloriole: ein Regenbogen klingt im Augenwinkel, im Ohrenwinkel das Präludium. Alles wird. Vielleicht ja gut.

Freitag, 23. Oktober 2020

Kulturhaupstatt

 Als ich vor einigermaßen langer Zeit in die weiterführende Schule gekommen bin, war das Hallo groß. Neben der sonst üblichen aufgeregten Eltern, die das Wunder kaum fassen können, tatsächlich etwas wie ein schulfähiges Kind auf die Welt gepresst zu haben, wunde Tränen verdrücken vor Ergriffenheit und Stolz weniger auf des Sprossens Leistung als vielmehr auf die eigene und darum den Nachwuchs in Position und Pose zwingen, die später gern als Teil der Diashow zu 18. Geburtstag oder Hochzeit wieder auftauchen, hat es bei mir damals zum Anfang von der 5. Klasse vor allem professionell blitzlichtgewittert: Horden von Pressemenschen waren angereist, Bürgermeister, Minister, Staats- und Ehrenvolk, Champagnerkorken und Olé, um Zeuge und Teil zu sein dieses historischen Tages. Und während die feierten und wichtig in Mikrofone sprachen, stand ich in feinem Nikisweater, Karottencord und auftoupiertem Igelpony, vor allem aber im Abseits und blinzelte tapfer in Vaters Filmspule. Denn leider wurde weniger der Beginn meiner gymnasialen Karriere gefeiert als vielmehr der Umstand, mit meinem Jahrgang eine Feldstudie nie dagewesenen Ausmaßes zu starten: den europäischen Schulzweig. Ein Experiment, das so erfolgreich war, dass man es heute grad noch so und mit viel gutem Willen googeln kann und sich im gebetsmühlartigen Direktorenspruch manifestierte, man sei jetzt „die Elite“ und hielte bald ein „Abitur Deluxe“ in Händen. Die Elite durfte in der Folge ein Jahr früher als alle andere an der zweiten Fremdsprache scheitern, dieses Defizit dafür in dreimal so viel Nachmittagspflichtunterricht kompensieren, sich ungeliebter Fächer nicht durch Abwahl entledigen, sondern der Kompetenz im musisch-künstlerischen Bereich ungeachtet in Mathe auch im Abiturfach dilettieren und sich, ebenfalls am bekanntlich produktiven Nachmittag, durch eine vierte Fremdsprache pubertieren. Ich sag mal so: Zu „Voy en bici al aeropuerto!“ hat’s noch gereicht, dafür schreit der Humanist in mir jede Nacht um 3.33 Uhr „BEI ISSOS KEILEREI!“ und morgens um 7.53 Uhr macht der Wecker nicht „piepiep“ sondern „ROM SCHLÜPFT AUS DEM EI!“  Als Lohn erhielt „die Elite Europas“ von der „Schule mit Herz“ zum „Abitur Deluxe“ einen grobkörnigen Zettel, der hinters eigentliche Zeugnis gesteckt quasi die Teilnahme bestätigte und den ich seit nunmehr bald 20 Jahre nicht mehr aus der Klarsichtfolie rausgezogen hab. Das ändert sich ab kommender Woche gefälligst! Denn dort steht, dass Nürnberg seit 20 Jahren mindestens ein europäisches Kulturhaupt hat. Dieses Kulturhaupt braucht endlich eine Statt, also einen Ort oder Platz. Und wenn man dann schon eine Kulturhauptstatt bereitstellt, kommt es auf diese eine winzige Buchstabenverdingsung auch nicht mehr an. Also: Wenn selbst dieses Argument die Jury nicht überzeugt, dann ist denen wirklich nicht zu helfen. Bis dahin: Abwarten und Tee trinken. Oder Grog.

Freitag, 16. Oktober 2020

Herbstwahn

 Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eh für jeden Jahreszeitenwechsel und Saisonstart güldet, aber ich hab das Gefühl, als wäre so ein Herbst ganz speziell dazu geeignet, erwachsene Menschen in Sturmeseile an der Windhose zu packen, einmal um sich selbst zu wirbeln und zu zwirbeln und als Kleinkind wieder hinabfallen zu lassen wie die anderen schönen Herbstgeschenke, die uns grad so süßlich um die Ohren tanzen und in kuschlig-warme Vorfreude versetzen: beige Mundschütze und indian-summer-rote Hundstrümmerltüten, käsig-gelbe Pizzaschachteln, bräunende Kaffeebecher, auch ein frischgrüner Elektroroller blitzt hier und da aus dem Gebüsch und stemmt sich freundlich gegens Himmelsgrau, in dem die Wolken Fangen spielen und Blindekuh und vor lauter Freude und vielleicht auch Schwindel gelegentlich einmal zu Boden speien. Da feuchtelt’s dann umeinander, aber das ist dem Menschlein schon egal, denn innere Stimme, höhere Gewalt oder niederer Instinkt sitzt ihm im Ohr und wispert: Nimm! Die! Kastanie! Und das Menschlein beugt den 30 oder auch schon 40, 60 Lenze schweren Buckel hinab und probiert sich in einer kleinen Gegenwehr: Kastanie wozu, viel zu alt für den Unsinn, was mach ich dann damit! Und in dir drinnen dann Protest: ES IST RUND! UND GLATT! UND WUNDERSCHÖN! WIR MÜSSEN ES BESITZEN! UND ZWAR BEVOR DIE ANDEREN ES ENTDECKEN! UND DANN NEHMEN WIR ES IN DIE HAND UND STREICHELN ES! UND BAUEN LUSTIGE TIERE! Und du lässt dich mitreißen, weil ACH! so schön der Herbst, sammelst Kürbisse zum Schnitzen und für Suppe auch und Eicheln weil auch aus denen kannst du süße Figürchen bauen und DA SCHAU! EIN ROTES BLATT! und DORT DRÜBEN NOCH EIN GELBES! und DA-UND-DA-UND-DA-UND-DASCHAUNOCHVIELMEHR! die müssen wir MITNEHMEN und PRESSEN und dann springst und hüpfst und jauchzt du und „Ich will mit dir einen Drachen bau‘n“, singst du dem grantigen Nachbarn ins Gesicht, „mit dir einen Drachen bau’n, für sowas hast du niemals Zeeeeeeeeeeeit! … Mit diiiir einen Drachen bau’n, denn ein gekauuuufteeeeer Drachöööö flieeeeegt nichtmal haaalb so weeeeit!“ und irgendwann später, viel später, kommst du wieder zu dir. Du sitzt auf dem Boden deines Wohnzimmers, umringt von angemodertem Laub und braunen Kugeln, ein Schwung Eicheln unterm Sofa, Zahnstocher und Klebeaugen sinnlos um die herum verstreut, dazwischen Fitzel von Buntpapier und Schnur, vom Tisch tropft Kürbisschlonz. Du angelst nach einem großen Müllsack und schaufelst den Herbst beschämt dort hinein. Irgendwas muss da in der Luft sein. Jetzt erstmal einen Grog. Weil neue Weisheit: Kein Bier vor vier, doch Grog adhoc! 

Freitag, 9. Oktober 2020

Funny Bone

 Manche Menschen haben so ein bewundernswertes Verhältnis mit ihrem Körper und der Wahr- und vor allem Ernstnehmung der Befindlichkeiten desselben. Also da meine ich jetzt gar nicht die Fraktion „Ooooh ich muss auf Milchprodukte immer so … also duweißtschon … jetzt muss ich mir immer diese suuuuperteuren laktosefreien Produkte kaufen und leide trotz-dem-noch an Flatulenz.“ und dann du so: „Ja hast du dich denn schon einmal testen lassen?“ – „Nein, aber es MUSS die Milch sein. Und auf Zwiebel, also wenn ich die nur seh muss ich ja schon …“ – „Ja oder halt einmal weniger saufen und dann Darmsanierung!“ oder dann gibt es noch so beeindruckende Persönlichkeiten, die sagen „Immer wenn ich einskommazweisieben Mikrogramm Paprikahaut gegessen habe muss ich exakt dreikommaachteins Stunde später einmal sanft aufstoßen. Kennst du das nicht?“ und dann ich so „Böööhnein?!“ Weil ich in dem Gebiet eher so Büffel und dankbar, wenn ich überhaupt noch weiß was ich am Vortag so gespeist hab, hier von wegen Schluckauf und dann „Was hast du gestern zu Mittag gegessen?“ dann hörst du von mir minutenlang überhaupt gar nichts mehr außer einen Hickser und irgendwann ein verzweifeltes „ICHWEIßES*hicks*NICHTMEHR*hickshicks*!“ Auch lausch ich voller Ehrfurcht Menschen, die sagen „Also du, meine erogene Zone ist ja der linke Ellenbogen, so im mittelhinteren, halbrechten Drittel.“ weil ich mein, da musst du doch auch erst einmal draufkommen, und eilig scheibenwischerst du dir durchs Gehirn, wo sich rasch und ungewollt ein Bild zu manifestieren anschickt. Dafür kann ich was anderes. Inselbegabung quasi. Nämlich im Gegensatz zu ungefähr allen Menschen hab ich nicht nur zwei Musikantenknochen links und rechts im Arm, sondern kann mit zielgerichteter Gewissheit auf mindestens 17 verschiedene Stellen meines Körpers zeigen, die eindeutig über diese Besonderheit verfügen. 18. Ganz akut hat sich nämlich eine neue hinzugesellt: Rechts schrägaußen über der rechten Kniescheibe. Die Dinger heißen im Englischen übrigens „Funny Bones“. Eh klar, dass ich davon nicht nur einen hab.

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Legendenbildung

Manchmal kontemplierst du in deiner Wohlstandswelt einfach so ein wenig herum. Dann legst du dich nieder auf dein Chesterfiel, es knarzt und staubt ein wenig, du klingelst nach dem George oder James oder wie der grade heißt, Havanna, Witzki, und dann erst einmal schön nachgedacht über die Lästigkeit der Welt und wie manche großen Dinge wohl entstanden sind. So ungefähr war das bei mir auch letzte Woche, weil der Herbst, der Regen, ihr ahnt es. Der einzige Unterschied halt dass mein Chesterfield Klippan heißt und bei mir weder ein George noch ein James herbeizuklingeln sind sondern ich mich ganz alleine um mich selbst bemühen muss. Aber gut, weil hat man schon auch gleich seine Ruhe, und die hab ich gebraucht beim Wolkenschaufeln. Weil du weißt ja, in jedem Witz steckt so ein Fünkchen Wahrheit, und in jeder Sage und Legende freilich auch: Moses zum Beispiel, ist ja nicht so, dass es den nicht einmal gegeben hätte oder den Nikolaus. Legende wird’s dann halt weil historische Erkenntnis. Weiß ich jetzt, weil war ich kürzlich mittendrin in so einer Entstehung, also hab ich eine der berühmtesten antiken Mythologien entschlüsselt, nämlich: Büchse der Pandora. Das war so, dass also wenn ein Mann eine Frau fragt „Du Liebes, was ist denn los? Warum hast du so eine Laune und so ein passendes Gesicht gleich noch dazu?“ und dann sogleich füllen sich die Liebesaugen mit Krokodilstränen und es haucht „Ja also ganz vielleicht hab ich ein bisschen Bauchweh und Kopfweh und Rückenweh dazu und wenn ich’s mir recht überlege ist wahrscheinlich schweres PMS und darob alles nicht sehr optimal.“ Dann hat so ein Mann zwei Möglichkeiten, nämlich entweder nimmt er das Liebe in den Arm und drückt und streichelt es ganz feste und gießkannenweise Mitgefühl und Wärmflasche und Schokoladenpudding und Samthandschuh und Entscheidungshoheit Fernsehprogramm. Oder aber, Option 2, er besinnt sich der modernen Zeiten, Respekt, Gespräch auf Augenhöhe, gegenseitiges Verständnis, aktives Zuhören, lösungsorientierter Ansatz, Anpacken statt Aufschieben und was wir halt so alles gelernt haben in der Brigitte und Emma und Men’s Health. Dann richtet er sein Rückgrat, blickt das Liebe durchs Monokel aufrichtig an und sagt die bedeutsamen Worte weitreichender Folge: „Und du bist sicher, dass sonst nichts ist?“ Ungefähr so ähnlich denk ich hat das mit der Pandorabüchse auch begonnen, bestimmt. Halt anders, weil da hat sich der Epimetheus ja konkret dem Bruderrat widersetzt und lieber gierig geheiratet. Also angeblich, weil freilich muss da irgendwo ein kluger Männerrat erwähnt werden wegen Gesicht bewahren und damit es nachher heißen kann „Also weiß ich ü-ber-haupt-nicht wie das passieren konnte, aber ich hab einfach nur dagesessen und nett geschaut und von jetzt auf hopp ist das ganze Übel der Welt über mich hereingebrochen und die Ohrwascheln haben nur so geflattert im Zornessturm da soll ich jetzt auch noch schuld sein.“ So geht das mit den Legenden.