Freitag, 28. Juni 2024

Bibliophilie

Hallo Hilfe! Situation! Ich muss meine Privatbibliothek auflösen, weil „jemand“, der hier einen gewissen Anteil der Miete bezahlt und deswegen gelegentlich Ansprüche auf die bezahlte Fläche erhebt, findet, es sei unzeitgemäß und lebensfeindlich, 20 Kubikmeter Wohnung mit ausgelesenem Papier aus 35 Jahren Leseleben zu besetzen. Und ich finde, dass da vielleicht ein Fünkchen Wahrheit drin ist. In meinem sogenannten Arbeitszimmer, das eigentlich Wasch- und Trockenraum, (deswegen auch) Gewächshaus für Anzuchtsaaten, Werkstatt, Museum, Lager und Transitzone (Dinge, die die Wohnung verlassen sollen, aber das aus irgendwelchen Gründen nicht zeitnah tun) ist, befindet sich eine Bücherwand. Die wäre gerne einmal ein Bücherraum geworden mit meterhohen Decken, Leitern zum lustigen Herumsausen zwischen den Abteilungen und einem rotsamtenen Lesesessel, ist aber aus Gründen auf dem Entwicklungsstatus „Ansammlung von Billys“ stehengeblieben und sammelt dennoch unbefangen weiter und weiter Bücher an, die spätestens seit der letzten Verdichtungsmaßnahme (200 Bücher raus, Effekt = 0) gänzlich unsortiert sind, sich mir aber in luzider Klarheit als papierne Zeitzeugen meines Lebens darstellen: Bei diesem Buch ging es mir gut, bei diesem schlecht, bei diesem war ich in Kroatien, bei jenem im Elternhaus, und hierbei hab ich immer dieses Lied gehört. Doch ich sehe ein, es muss etwas passieren, denn es kommt die Wand bedrohlich näher und der Mitbewohner auch. Jetzt Situation: Aus vier Regalmetern energischen Aussortierens habe ich dank mehrreihiger Aufbewahrung sechs Kubikmeter Bücherstapel generiert, was i.e. einem Zehntel dessen entspricht, was noch bevorsteht, und wenn ich das alles aus der Wohnung entferne, wüsst ich noch nicht einmal, wohin. Man hatte bereits Ideen, von denen mir diejenige am besten gefiel, die einen eigenen Bücherschrank vor dem Haus vorschlug: Da ich oft das Gelesene eilig wieder vergesse, könnte ich mich mit dem Inhalt dieses Schrankes immer wieder selbst neu überraschen und mich freuen über die fremde Person mit dem ausgezeichneten Buchgeschmack. Aber ist das zielführend? Nein. Vielleicht ein Privatflohmarkt? Vorbeikommen und bestens erhaltene Leseware jeglichen Umfangs und Genres durchstöbern und ihr gegen schmales Geld ein neues Zuhause geben, um dort selbst zu lesen oder dem kargen Heim einen intellektuellen Anstrich zu verpassen (individuelle Beratung inklusive, von Fitzek würd ich in dem Fall eher abraten)? „Langenscheidts Handwörterbuch Englisch-Deutsch mit rund 220 000 Stichwörtern auf 1528 Seiten in 20,04kg“ ist aus mir unerfindlichen Gründen offiziell überhaupt nicht mehr zum Kauf verfügbar – für Liebhaber hätt ich's aber hier in garantiert unbenutzt zum Vorzugspreis.

Freitag, 21. Juni 2024

EM? Welche EM?

 Also gut. Fussi. Man (ich) kommt ja doch nicht drum herum. „Bis Donnerstag hat mich das ja alles ziemlich kalt gelassen“, fiebert der Mann mit kugelrunden Fußballaugen, „aber seit dem Eröffnungsspiel am Freitag muss ich sagen: Ich bin EM!“ Somit bin ich leider auch EM, da Tätigkeiten jedweder Art ausschließlich nur noch in den sensiblen Zeiträumen 17 bis 18 Uhr sowie 20 bis 21 Uhr stattfinden können und entsprechend um mich herum eine gewisse hektische Betriebsamkeit herrscht. Kehrt der Mann vom Job nach Hause, stürze ich mich auf ihn und erzähle sprudelnd von meinem ereignisreichen Tag und bemerke mal früher, mal später diesen starren und irgendwie nach innen gekehrten Blick, der hier und da von einem „Mhm“ oder „aha“ unterbrochen wird bis ich merke, dass die Aufmerksamkeit mitnichten auf meinen Bericht sondern den des Sportkommentators im Ohrstöpsel gerichtet ist. Sitzt der Mann still auf dem Balkon und freu ich mich, dass er auch einmal zur Ruhe kommt und schön in einem Buch versinkt, entdecke ich zwischen dem Grün aus Blumenkübeln und Basilikum ein kleines Rechteck mit Rasengrün, auf dem ein Ball herumgezwirbelt wird. Abendessen, Körperpflege, Serie – gerne, aber alles bitte nur bis in der Stunde bis zum dritten Spiel, wenn da nicht längst gerast werden muss zu einem Public Viewing, von dem wir freilich alle wissen, dass es das falsche Wording ist, aber uns doch in den letzten Jahren so wunderbar dran gewöhnt haben und aus unerfindlichen Gründen nur allzu gern in Kauf nehmen, von einem wichtigen Spiel höchstens nur die Hälfte, dafür sehr viel Sonnenschirm, Spaßhüte und Klogänger durchs Bild latschen zu sehen und das viel besser finden als auf dem Kanapee zu fläzen und aufs Klo gehen zu können, wann immer es beliebt und nicht dann, wenn die Warteschlange es erlaubt, um sich so ganz darauf konzentrieren zu können, Männern beim Ballspiel zuzusehen, was im viel beschworenen Sommermärchen 2006 noch den netten Nebeneffekt hatte, in alle Spieler nebst Ersatzbank und Linienrichter verliebt sein zu können, man heute aber nicht umhinkommt sich zu fragen, ob die Knaben denn nicht wenigstens eingeschult sein sollten, bevor sie über Weh und Ach einer Nation entscheiden dürfen. Die sich aber, so scheint es mir, ohnehin grad noch in relativer Zurückhaltung übt. Zumindest hält sich die Zahl der Autos mit lustigen Deutschland-Kostümierungen noch einigermaßen in Grenzen und die sonst um keine Feierlaune verlegene Nachbarschaft hat es bislang geschafft, noch keinen Polizeieinsatz mit Schland-Gesängen und Pyrotechnik auszulösen. Aber das kann ja alles noch kommen. Am Ende bin dann ich selbst EM und führe als an einen LKW geheftete Galionsfigur den „Immerhin erst nach der Vorrunde ausgeschieden, man muss für alles dankbar sein“-Autokorso an. Schallalalalaaa! 

Freitag, 14. Juni 2024

Schlafen wie die Tiere

 Pferde und Giraffen schlafen im Stehen. Pottwale aufrecht im Meer, Nilpferde am Grund ihres Schlammgewässers. Fledermäuse hängen kopfüber, manche Vögel schlafen im Flug und Robben treiben auf dem Wasser. Tiere haben die unterschiedlichsten Gewohnheiten, was ihre Schlafposition angeht und ich gehöre momentan dazu: Ich schlafe im Sitzen, und das ist gar nicht mal so schön. Prinzipiell finde ich Menschen beneidenswert, die immer und überall schlafen können. Opa war so einer: Kaum hingestreckt auf Kanapee oder Picknickdecke erklang aus dem großen Opaleib ein vernehmliches Röcheln, und weder die tobenden Enkel noch die zankende Brut konnte daran etwas ändern. Schreiende Fernseher, ratternde Züge oder gar ein Festival außenrum – auch der Mann ist sehr gut darin, sich seinen Schlaf dann zu holen, wenn er ihn grad nötig hat, und so schnarcht es selig neben mir, derweil ich mit weit aufgerissenen Augen in die Glotze oder durch die Gegend starre. Statt sehr gut zu schlafen kann ich also sehr gut wach sein, und momentan kann ich das besonders gut, weil eine gewisse orthopädische Befindlichkeit in meinem Schulter-Nacken-Bereich es mir schier unmöglich macht, mich hinzulegen – geschweige denn wieder aufzustehen. Um irgendwie zu Schlaf zu kommen habe ich mir also einen Sessel aus Kissen im Bett gebaut, in dem ich nun throne wie die Prinzessin auf der Erbse und gebe ein ganz und gar jämmerliches Bild ab – was ich zufällig genau weiß, da dieses Bild auch den Mann schier zu Tränen rührt, doch nicht so sehr, als dass er nicht auch noch hämisch kichern und ein Foto machen könnte. Gestern im Arztwartezimmer hat es dann plötzlich neben mir geschnarcht: Eine Frau schlief, den Kopf auf die Brust gelegt, den Schlaf der Gerechten, und wieder war ich neidisch, denn trotz dessen sich mein Hirn anfühlte wie frisch lobotomiert war es freilich hellwach. Wie schön wäre es doch, dachte ich, wenn ich bin bisschen mehr Rindvieh sein könnt oder Katze, meinethalben auch die Fledermaus. Dann könnt ich mich in der Tram an die Haltestange hängen und dort baumelnd schlafen bis zur Endstation. Ich könnte mich beim Einkaufen hinabsinken lassen aufs Warenband und erst aufwachen, wenn ich durch den Scanner gezogen werde und dabei piepe. Ich könnte mich in die Pegnitz legen und dort treibend die Stadt durchqueren, bis es mich am Wehr verwirbelt. So aber geht es mir nur wie dem Faultier: Vor Übermüdung bewege ich mich so langsam, dass es nur so aussieht, als schliefe ich beim Gehen und Stehen. Am liebsten wär mir der Westafrikanische Lungenfisch: Der gräbt sich einfach ein, wenn sein Gewässer austrocknet, erstarrt dabei selbst und kehrt mitunter nach Jahren erst wieder ins Leben zurück, wenn außenrum alles gut ist.

Freitag, 7. Juni 2024

Chill doch mal

 Gib die Kontrolle ab! Lass los! Lass es zu! Es kommt ohnehin, wie es kommt! Entspann dich! – Sätze, die ich in den letzten Tagen vergleichsweise oft gehört habe. Und zwar nicht etwa von einer klangschalenumwölkten Meditations-CD „Zen-Buddhismus in drei Tagen“ oder so ähnlich, sondern von: mir selbst. „WAHAHAAS, und sowas AUSGERECHNET von DIHIHIIIIR? Das sahahahahahahgt ja genau die Rihihihichtige!“ sprach der vorbehaltlose Unterstützer in allen Lebenslagen, als ich ihm davon erzählte, und ich stieß den Mann sehr unbuddhistisch vom Kanapee und war beleidigt. Weil: Er hatte recht. Aber ich hatte viel im Park mit den Freundinnen telefoniert, und die erzählten wutschnaubend Geschichten aus ihrem aktuellen Leben, angesichts derer das meinige mir wie der reinste Kommunionsunterricht vorkam. Oder was halt sonst so sehr langweilig ist. „Ich hab nicht die geringste Ahnung, wie das alles gehen soll. Ich versuche mich wirklich in Fatalismus, aber es fällt mir schwer“, sprach die erste und berichtete von Schauspieleinsätzen und Drehtagen, die in Kürze beginnen und ergo Texte erlernt werden sollen, die es nur leider noch nicht gab. „Lass es geschehen, mein Lieb“, sagte ich und dass da doch eh der Wunsch zu mehr Improvisationsraum gewesen sein. Dann: „Ey ich sag’s dir, wenn‘s jetzt noch länger so weitergeht dass das so schlimm ist, dann lass ich das bleiben und dann ist das eben so!“ schimpfte die nächste, und ich frug salbungsvoll: „Schatz, verstehe ich dich richtig, dass du dieses Projekt mit der Auffassung begonnen hast, dass ausgerechnet du, Katharina die Größte, dank deiner eigenen Großartigkeit und unbeugsamen Willenskraft dazu befähigt bist, etwas zu schaffen, woran der Rest der Menschheit seit Jahrhunderten scheitert, nämlich 30 Jahre suchtintensivstes Kettenrauchen durch blanken Willen und deine herrliche Existenz innerhalb von zwei Wochen einfach schadlos abzustreifen, und jetzt nach drei Wochen verwundert und zornig bist, dass das so nicht funktioniert?“ – „JA!“, sagte die Freundin und ich hatte sie sehr lieb und schlenderte weiter durch den Park, um das dritte Telefonat zu führen: „Ganz toll, dieses ‚Elternzeit‘“, hieß es dort. „Eine Person ist super entspannt und die zweite Person reicht demnächst die Scheidung ein!“, schließlich habe die zweite Person auf einmal vier statt drei Kindern zu versorgen, was den Mental Load empfindlich erhöhe statt ihn zu reduzieren, und wenn der Mann noch ein einziges Mal von „Entspann dich doch mal!“ spräche, vergesse sich die Freundin. „Entspann dich doch mal!“ sagte ich hilfsbereit und atmete tief in den Bauch die gute Parkluft, die neuerdings ja noch ein wenig aromatischer ist als sonst. Zusammenhang? Ach Quatsch, das glaub ich nicht. Es muss die Altersmilde sein.