Freitag, 17. Mai 2019

Abitrauma

Wisst ihr, liebe Abiturienten, für uns alle anderen ist die Zeit grad auch nicht leicht. Nein, ich würde sogar soweit gehen zu sagen: Sie ist schlimmer. Weil während ihr in eurem jugendlichen Leichtsinn fröhlich ans Werk geht und erst hinterher merkt, dass drei Tage lernen immer nur in den Netflix-Werbepausen vielleicht doch ein bisschen optimistisch geplant war, müssen wir alle, die wir diese schlimmste aller Zeiten längst hinter uns gebracht zu haben glauben, jedes Jahr aufs Neue wieder den Albtraum durchleben, reißt es uns nachts aus den Betten, zucken wir beim kleinsten Geräusch zusammen und fragen uns: Wie in Dreiteufelsnamen hab ich das nur geschafft? Also ich weiß schon, das findet ihr jetzt seltsam, weil schließlich habt ihr ein Recht auf Schulabschluss, und wenn euch irgendwas nicht ganz genehm ist, greift ihr zur schärfsten verfügbaren Waffe eurer Zeit, der Online-Petition, und den Rest macht dann der Papa vor Gericht, aber glaubt mir, bei uns war das anders – wir mussten noch richtig, ehrlich bescheißen. Oder das zumindest versuchen. So bin ich heute noch gelegentlich verwundert, dass ich beim Blick auf meine Oberschenkel nicht immer noch die deutschen Stilmittel dort finde, seinerzeit eintätowiert für die Ewigkeit schön mit wasserfestem Folienstift und dem heiligen Plan, minütlich aufs Klo gehen und bei der Gelegenheit kurz einmal die Erinnerung aufzufrischen. Im Ergebnis hab ich, die sich bis heut nicht traut, auch nur eine halbe Station Bus zu fahren ohne ordnungsgemäß ein Billett gelöst zu haben, weil man könnte ja erwischt und dann in unfassbar peinlicher Art und Weise am Ohrwaschel aus dem Gefährt gezogen und öffentlich ausgeschimpft werden, dann aus lauter Angst vorm Erwischtwerden die kompletten fünf Stunden Prüfung nicht einmal aufs Klo gehen müssen, aber allein das vorher mal aufgeschrieben zu haben hat scheint’s geholfen. Für manch andere Prüfungs-äh-leistung möchte ich mich heut noch gern entschuldigen beim Lehrkörper, weil vielleicht ist Gruppenlernen in der Stammkneipe doch nicht so produktiv wie gedacht – dafür kann ich heute guten Gewissens sagen, dass ich dort seit 20 Jahren Gast bin – und den größten Verdienst im Mathe-Abi hab leider nicht ich errungen, sondern die zwei Mitschüler, die, während drinnen schriftlich geschwitzt wurde, außen schwarz vermummt ein aufmunterndes Transparent („HAHA!“) vors Fenster trugen. Weil mir nicht bekannt ist, wie lange man Abiturnoten rückwirkend für ungültig erklären kann, bleibt der schöne Weg zur vollen Punktzahl in Sport besser weiter ein Geheimnis, aber dass das was mit Joggen, Burggraben und Fahrrädern zu tun hat, darauf könnten vielleicht sogar die aktuellen Prüflinge kommen. Oder ihr wartet halt einfach katatonisch ab und beschwert auch nachher, dass euch das niemand gesagt hat. Am besten mit einer Online-Petition. In Österreich heißt das Abitur übrigens Matura. Das bedeutet „Reife“. Seltsam.

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