Freitag, 30. August 2024

Einschlafbegleitung

 Ich höre zum Einschlafen derzeit viel Jazz. Das ist sehr angenehm, erinnert mich an meine Kindheit, die ich grob geschätzt durchgehend in Biergärten bei Jazz-Frühschoppen verbracht habe, und mit samtigen Tönen wiegt mich die Trompete in den Schlaf. Das gefällt mir. Ich würde auch zum Einschlafen Jazz hören, wenn es mir nicht gefiele, denn nicht ich wähle die musikalische Einschlafbegleitung, sondern der Nachbar. Und nach meiner Vermutung ist es derselbe Mensch, der das ganze Karree mit Duke Ellington, Ella Fitzgerald oder Miles Davis, manchmal auch mit Debussy, Chopin oder Stravinsky betört, der lauthals schreiend seinen Unmut kundtut, sobald jemand anderes hier zeitgenössische Popmusik auflegt. Denn merke: Es gibt kein Richtiges im Falschen, so auch nicht bei der öffentlichen Musikbeschallung, und wenn wir hier schon den ganzen Tag Schlagerparade und Oldie-Night ertragen müssen, soll sich der Geist abends erholen dürfen. Und das tut er eben gemeinhin bei Jazz und Klassik besser als bei Gabber oder Gangstarap. Das gilt gefälligst für jeden, aus Ende Äpfel, hab ich auch gestern gedacht, als der in der Hitze der Hundstage sirrende Asphalt des mittäglichen Straßenverkehrs von mächtigem Geschepper durchschnitten wurde. Und genau in dem Moment, in dem ich in Erwartung eines tiefergelegten BMWs die klugen Worte „Meine Güte, ihr Volltrottel immer mit eurem beschissenen besten Musikgeschmack, den ihr der ganzen Welt beibringen müsst!“ laut aus dem offenen Fenster denken wollte, überholte mich ein singender Strohhut. An Gesang und Kopfbedeckung befestigt war ein altes Runzelgesicht mit grauem Haar in einer sich sichtlich im Zerfall befindlichen Schrottkiste, die unter dem Italo-Pop-Beschall nur so zitterte. Ich schloss den Mund zu einem Lächeln und freute mich, denn es gibt kein Falsches im Richtigen, und gute Musik darf, nein: muss man nicht nur laut hören, sondern auch mit vollem Körpereinsatz schmettern. Und im Großen und Ganzen macht es einfach mehr her, vielleicht nicht ganz schön, aber dafür schön laut hörbar mitzusingen als das Gesicht nur zum stummen Schrei zu verziehen. Das weiß auch schon der Lieblingszwerg, und so besteigt er das Auto mit Befehlen: „DACH AUF!“ und „KAKADU!“, woraufhin stets eine Lektion musikalische Früherziehung im ganzen Stadtgebiet erfolgt, nämlich dann, wenn drei Generationen Geraldino (Oma, Tante, Kind) im offenen Cabrio tanzen, lauthals singen und irritierten Blicken ein kokettes Winken bescheiden. Sag ich „Kind, können wir einmal auch eine gute Musik hören?“ sagt das Kind „NEIN!“ und beendet die Diskussion. So lern ich mich zu fügen. Vormittags Schlager, nachmittags Geraldino, abends Shirin David und Apache und zum Einschlafen dann, was auch immer der intellektuelle Herr Nachbar wünscht. Aufregen? Viel zu heiß.

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